Nebelbilder

Sie sind ziemlich genau zwei Jahre alt und entstanden am letzten für ihn erreichbaren Sehnsuchtsort meines kürzlich verstorbenen Vaters, am Stausee Beyenburg zu Wuppertal. Zu dieser Zeit war er noch ein wenig mobil und das Wetter war phantastisch für nebelige Bilder. Wir fuhren über die Höhenzüge im strahlenden Sonnenschein hinunter ins Tal, in eine Wolke hinein. Eine bizarr nasse Landschaft, die Sonne gab sich alle Mühe, den dicken Nebelsumpf zu durchbrechen, der im Tal über der Wupper lag.

Die Phantasie macht aus diesen Bilden Exkurse in die Mystik. So in etwa mag der Grenzfluss Styx ausschauen, der mit seinen Ufern die Welt der Lebenden von der der Toten trennt. Mein Vater ist nun auf der anderen Seite und findet hoffentlich seinen Frieden.

Sie sprechen für sich , die Bilder, die hier ihrer Schönheit wegen in Originalgröße zu sehen sind.

~

~

Abgesang

Es ist nicht so, wie es sollte. Aber wie soll es denn sein? Abschied, sagte ein alter Freund, der mir wieder etwas näher gerückt ist, vielleicht, weil wir über strittiges nicht mehr sprechen. Abschied also, nicht Abrechnung. Man soll – Toten nichts schlechtes nachsagen. Definiere gut oder schlecht, da wird es schon sehr individuell, außer man bedient sich gesamtgesellschaftlicher Maßstäbe und lässt die eigenen außen vor. Das wiederum kann schnell in Heuchelei ausarten und die wiederum ist schlecht – zumindest in meiner Empfindung.

Ich habe für dich getan, was ich konnte, zum Schluss, die letzten Jahre, Monate. Mit ganzen Herzen wäre gelogen, eher aus der Pflicht heraus, im Sinne des vierten Gebotes. Mit Sicherheit, weil es irgend jemand in die Hand nehmen musste, aber auch, um endlich dein Vertrauen zu bekommen. Und ja, dein Leid rührte mich zutiefst an, ganz gleich, wie du warst, das habe ich dir nicht gewünscht. Manche Erkenntnis, dir verdammt ähnlich zu sehen, im Guten und im weniger Guten, rührte mich zutiefst auf.

Ich habe dir mein Leben zu verdanken. Meinem Glauben nach suchen sich wiederkehrende Seelen ihre irdischen Eltern aus, um bestmögliche Wachstumschancen zu haben. Manchmal halte ich das für eine zynische Scheiße, manchmal spüre ich die Wahrheit darin, immer dann, wenn ich Bewegung und Veränderung wahrnehme. Wie auch immer, die Beweisführung dessen wird auf ewig offen bleiben müssen.

Viele Gespräche im Familienkreis lassen darauf schließen, dass du bis zum Ende der Alte geblieben bist, habgierig und misstrauisch gegenüber allem und jedem, deine Frau und mich eingeschlossen. Ich nehme es dir nicht persönlich, du konntest das nicht anders, ich weiß, wie es ist, wenn man sich selbst nicht vertraut, kann man dies auch seinem Nächsten nicht schenken. Wir sprachen über deine Kindheit, Jugend, junge Erwachsenenjahre, vieles kam aus aktuellem Anlass wieder hoch. Ein Satz blieb mir im Gedächtnis, aus dem Munde eines Menschen, der sich beruflich mit Heilung beschäftigt: Du hättest schlimmer werden können. Auch das, sicher.

Es wird mir nicht möglich sein, dich in guter Erinnerung zu behalten, wie man so sagt. Du bleibst mir so in Erinnerung, wie du warst, mit deinen Schatten, aber auch mit deine liebenswürdigen Seiten, die es durchaus gab. Niemand ist nur so oder so, jeder ist ganz viel und oft genug widersprechen sich die Anteile, ich kenne das nur zu gut von mir selbst. Darum richte ich nicht, vielleicht verbunden mit der Hoffnung, dass auch über mich einst nicht gerichtet wird.

Morgen tragen wir deine irdischen Überreste zu Grabe. Ein ritueller Abschluss, so würdevoll, wie es uns möglich ist. Du wirst dich für dein vergangenes Leben verantworten müssen, dort, wo du jetzt bist, ganz gleich wo das sein mag. Ich wünsche dir Frieden und Licht – von Herzen.

🙏

PS: Das Bild im Header und das Hintergrundbild dieser Website entstanden auf einem unserer Ausflüge zu deinem Sehnsuchtsort in der Nähe. Den Sinn für die Schönheit in der Natur teile ich mit dir.

In eigener Sache

Ursprünglich ein Kommentar anderswo.

Ich heiße Reiner, bin ein trockener Alkoholiker und ein süchtiger Mensch. In meiner aktiven Zeit waren Alkohol und Cannabis die Mittel der Wahl. Gerne in Kombination, erst kiffen, dann trinken. Die Reihenfolge musste stimmen, sonst ging das übel(er) aus. Gelegentliche Erfahrungen mit Speed/Koks gab es auch, das stand dann an erster Stelle, gefolgt von den genannten Downern.

Wenn ich von mir als einen süchtigen Menschen schreibe, beziehe ich dabei alle nichtstofflichen Süchte mit ein. Dazu zähle ich alles, was irgendwann pathologischen und destruktiven Charakter bekommt. Arbeits- Sex- Fresssucht, aber auch Geltungssucht sind Bestandteile dessen. Große Teile davon sind gelöst oder wenigstens reduziert, dafür bin ich dankbar. Hinter alledem konsumieren und süchtigem Verhalten stand bei mir ein innerlich zutiefst verunsicherter Mensch mit nur geringem Selbstvertrauen und einem nicht vorhandenem Geborgenheitsgefühl, Verlorenheit beschreibt es am besten. So, wie ich war, wollte ich micht nicht. Definieren konnte ich mich über beruflichem Erfolg und über meine vermeintliche Wortgewaltigkeit, gerade wenn ich breit war. Sucht ist für mich ein Sammelbegriff für alle möglichen (pathologischen) Verhaltensweisen, die vom Selbst ablenken sollen, vermeintlich Flucht, Fülle, Anerkennung und Selbstbestätigung bieten, was am Ende nur Selbstbetrug ist.

Was mir in meiner ersten trockenen Zeit, nachdem die allererste Euphorie verflogen war, am meisten zu schaffen machte, war ein Zustand von großer innerer Leere. Mit meiner ersten, „trockenen“ Liebesbeziehung, der es aufgrund ihrer psychischen Erkrankung ähnlich ging, war ich unglaublich viel unterwegs, jeder spirituelle Vortrag, jedes Seminar wurde mitgenommen, kaum ein potentieller Heilsbringer wurde ausgelassen. Rückblickend ein sehr spannende und aufregende Zeit, die sich über mehrere Jahre erstreckte, aber letztendlich aufgrund der Vielfalt auch sehr verwirrend und ohne die für mich nötige Erdhaftung.

Geblieben ist mir ein einfacher Glaube an meine namenlose höhere Macht, die, obgleich ich einer religiösen Gemeinschaft angehöre, nicht direkt mit einer solchen verbunden ist. Es brauchte zahllose Erfahrungen, um zu einem heute meist tragenden Geborgenheitsgefühl zu finden. Dankbarkeit auch für die kleinen Dinge am Tag lässt für mich heute keinen Raum für Mangel, gleich welcher Art. So ich mich rechtzeitig daran erinnere 🙂

Sonntag mit Bildern

Die vermutlich erst einmal letzten sonnigen Tage laden zum laufen ein, einmal mehr bin ich dankbar, mich bewegen zu können. Am Ende waren es in der Summe 15000 Schritte und ein paar schöne Bilder zm mitnehmen. Licht, Luft, und Sonne – gehen hat etwas meditatives, auch, mit einigen sonntäglichen Betrieb.

Nordstadt Elberfeld / Wuppertal

Nordbahntrasse ab Mirker Bahnhof bis Oberbarmen / Schwarzbach

Brücken und Zugehörigkeit

Eine Brücke ist ein Konstrukt, das zwei Orte miteinander verbindet, die ansonsten zueinander nicht oder nur mit großen Umwegen und Hindernissen erreichbar wären. Der Verstand kann eine solche Brücke sein, wenn er nicht zu sehr andersweitig in seiner Rolle als Werkzeug im Alltag beschäftigt ist. Oder – was noch hinderlicher ist, wenn er seinem Träger einzureden versucht, er sei sein Verstand. Kommt so selten nicht vor, vor allem bei übermäßigen Gebrauch macht er sich gerne wichtiger, als er ist und wirkt so wie eine Windmaschine für das Ego, welches sich in der Folge künstlich aufbläht.

Wenn der Verstand also von seinem Alltagsaufgaben temporär befreit ist, dann darf er manchmal eine Brücke sein. Eine direkte Verbindung zwischen der Seele seines Trägers und der Außenwelt, im Idealfall. Oft genug drängeln sich andere vor, jede Art von Emotionen und natürlich das Ego. Geht auch in Ordnung, solange der Verstandesträger verinnerlicht hat, er ist nicht seine Emotionen und schon gar nicht sein Ego.

Worte gehen beim schreiben über diese Brücke, formen Sätze, Geschichten und können das Innere des Schreibers wohldosiert in die Welt tragen.

*

Manchmal staune ich, was mir für kleine Episoden im Gedächtnis haften geblieben sind. Momente, die sich kurz nach der magischen Erinnerungsgrenze von drei Jahren zugetragen haben müssen. So dieser Moment damals, an der Hand meiner Mutter. Ich hatte mitbekommen, dass die Menschen einander grüßen, wenn sie sich begegnen. Was ich noch nicht verstanden hatte, die meisten jedenfalls kennen sich irgendwie, irgendwoher. Und so dachte ich, es müsse so sein und grüßte fröhlich jeden, der des Weges kam, wurde tatsächlich von den meisten auch zurück gegrüßt. Bis eines Tages meine Mutter ihrem vermeintlich verhaltensauffälligen Kind zu verstehen gab, es sei nun genug, mit der Grüßerei. Fremde Leute und so, die grüßt man nicht, zumindest nicht in der Stadt. Im Wald schien das anders zu sein, hier grüßte jeder freundlich jeden. Sehr seltsam jedenfalls für einen Dreijährigen, der ab nun nicht mehr drauflos grüßte, aber die Welt nicht so recht verstand. Es schien Unterschiede zwischen den Menschen zu geben…

Mittlerweile sind ein paar Jahre mehr ins Land gezogen und das mit dem grüßen ist eine Sache der Tagesform, des Bekanntheitsgrades und der Begegnungshäufigkeit. Sieht man weniger seinesgleichen, wird eher schon mal gegrüßt. Soweit, so gut. Die Zeit der großen Entfremdung von der Welt ist auch schon lange her, auch wenn sich dieses alte Gefühl ab und zu noch breitmachen möchte. So ist der Schreiber zwar viel und oft mit sich allein oder auf seine arg fragmentierte Rest- Kern- Rumpf-Familie reduziert, was nicht ungewöhnlich ist, gerade beim älter-werden. Geblieben ist ein starkes Interesse an Gemeinschaften aller Art, vorzugsweise menschlicher Natur, aber auch religiös oder politisch, die natürlich das menschliche nicht ausschließen dürfen. Ich lese öfter von anderen Lebensformen, gerne auch aus der so genannten queeren Kommunity, die auch ein Regel-basiertes Miteinander pflegt, nur eben anders. Vereinsmeiereien dagegen erwecken erst mal Argwohn, scheinen sie doch oft vom eigentlichen Zweck abweichend schiere Ego-Pflegewerke zu sein. Magie dagegen scheinen Gemeinschaften zu besitzen, die ein gutes Maß Selbstlosigkeit pflegen und in denen ein jeder nach Kräften für seinen Nächsten einsteht.

Tja. Was macht Mensch nun mit der uralten Sehnsucht nach Zugehörigkeit? Er fühlt sich als Kosmopolit, einerseits, und andererseits als Teil des Großen und Ganzen, heute, verbunden mit der Hoffnung auf näheren Anschluss im nunmehr fortgeschrittenen Lebensalter. Das wiederum bedingt ein gutes Maß Teilnahme an der Welt, was dem Höhlenbewohner nicht immer leicht fällt. Zeit ist auch so ein Ding – und – entschieden werden sollte sich auch beizeiten, das macht der Verstand so schwer, mit seiner ewigen Abwägerei. Und hier schließt sich der Kreis in diesem Eintrag, weil – Chef ist er nicht, der Verstand.

*

Sonn-Tag und Nischen im Dasein

Derzeit scheint mein Leben zum großen Teil aus Pflichten zu bestehen, verbunden mit einer grandiosen Müdigkeit. Wer sich je quasi Berufs-begleitend um seine greisen Eltern gekümmert hat, die zudem nicht gerade nebenan und seit neulich auch getrennt voneinander wohnen, der versteht, was ich meine.

Um so wichtiger sind die Stunden zwischendurch. Ich mag keine klassischen Ausflüge mit dem Auto, Auto fahren bedeutet für mich nur weiteren Stress und wieder ohne Bewegung. Auch die öffentlichen Verkehrsmittel sind keine wirkliche Alternative, von ihrem therapeutischen Nutzen in Sachen Menschheitsverständnis und Bewusstseinserweiterung, die eigene Art betreffend, mal abgesehen. Also Schuhe an und raus, dort wo ich lebe.

Die Hardt ist eines meiner Liebelingsziele, wenn auch in diesem Jahr total vertrocknet, wie überall. Ist schon erschreckend zu sehen und es scheint zu unserer neuen Normalität zu gehören. Der Ausblick vom Elisenturm ist dennoch immer wieder schön.

Und weiter geht es, die andere Talseite am Südhang hinauf, hin zum Unterbarmer Friedhof. Dort habe ich vor vielen Jahren mal ausgiebig Bilder gemacht, die leider verschollen sind oder besser aufgrund nicht vorhanden gewesener Datenbank-Zugriffsrechte mit dem ehemaligen blog.de untergegangen sind. Seis drum.

Ein Geschichts-trächtiger Ort und für mich auch ein Ort privater Erinnerungen, liegt er doch in der Nähe einer ehemaligen Wohung aus lange zurückliegenden Zeiten. Es hat etwas verwunschenes dort und ich bin immer wieder gerne hier, klettern und schwitzen Sommertags inbegriffen.

Alles in allem waren das gut 15000 Schritte – ich bin froh und dankbar, mich noch so bewegen zu können. Dass das nicht ewig anhält, sehe ich mit Blick auf meine Eltern gerade nur zu deutlich.

*

Ein Hauch von Ferien

Nachdem eine geplante Reise ans Meer aus familiären Gründen kurzfristig abgesagt werden musste (wer auf der Wupperpostille mitliest, weiß, warum, hier folgt irgendwann eine Zusammenfassung des Tagesbuchs). Und so bleiben kleine Ausflüge, so wie der hier, nach Lüdinghausen, irgendwo südlich von Münster. Wir waren an einem Montag dort, ein Tag, an dem die örtliche Verschlafenheit ihren wöchentlichen Höhepunkt erreicht. Das meiste war geschlossen, das Städtchen beinahe verwaist. Aber – es hat ein eigenes Kennzeichen, was irgendwie leicht größenwahnsinnig kling, angesichts der beinahe stillstehenden Zeit dort, relativiert sich aber, weil es den Kreis Lüdinghausen umfasst, nicht nur die Stadt. Sind dann ein paar hundert mehr Menschen 😉

Lass Bilder sprechen…das Städtchen:

Dennoch ist die montägliche Verschlafenheit wohltuend und die Burg Vischering ist sehr niedlich. Erinnert an gewisse Märchen mit langen blonden Haaren und so. Wir mutmaßen, was die Liebste wohl herunterlassen würde, so sie denn in dem Türmchen wohnen täte und sich unten jemand die Seele nach ihrem Haar aus dem Leib schreien sollte – ist rezitierbar, aber nicht jugendfrei, darum lass ich das jetzt mal. Lustig war es in jedem Fall, und lustig hat gerade eher weniger, im Allgemeinen.

…und die Burg:

Und – was zwischendurch immer geht, ist unser botanischer Garten hier im Tal der Wupper. Zu Fuß erreichbar und für mich ein kleiner Sehnsuchtsort zum regenerieren, nicht nur im Sommer.

~

Kiezflucht

Erstmalig seit einiger Zeit gab es wieder unser Kiezfest, das Ölbergfest. Gute Sache soweit, leider viel zu voll, hat sich erledigt, mit dem ehemals angedachten Nachbarschaftsfest, derweil der Rest der Stadt zum feiern einfällt. Verständlich, gerade nach gefühlt vergangenen Pandemie-Zeiten, mir aber viel zu voll, zumal nichts vergangen ist, wie mir die Berichte aus dem Umfeld sagen. Alle anderen hatten jedenfalls ein tolles Fest, wir waren nur mal am Rande gucken, das reicht.

Und so machten wir uns auf dem Weg in die Stadt und staunten über die bumsvollen Busse und Fußgängerströme in die Gegenrichtung. Lieber schön auffe Hardt, Bienchen & Blumen angucken und die Seele baumeln lassen (Klick auf ein Bild öffnet die Original-Datei in einem neuen Tab).

Zedernholz & Öl – Antibakteriell und entzündungshemmend, zudem hat es eine beruhigende Wirkung auf unsere Psyche, es vertreibt Angst und löst Spannungen, tröstet uns in schwierigen Lebenslagen, hilft auch gegen Angst und Ärger, gegen Aggression, es bringt uns wieder ins Gleichgewicht, verleiht uns wieder mehr Stärke und Würde. (Quelle WWW)

Abstieg in Richtung Unterbarmen, selbst die alte wilhelminische Feuersäule sieht im Sonnenlicht freundlich aus.

Und – Werbung, unbezahlt, aus purer Begeisterung. Lecker essen und trinken, dabei unfassbar viel für die Augen. Zeitreise pur.

Das hier hat einen Ehrenplatz verdient – Rarität, so eine Aufnahme.

Verborgene Schönheit, erinnert sich noch wer an den Film?

Und – Kiez-Fund auf dem Heimweg, kleine Erinnerung an meine Kindheit. Längst Vergangenheit, aber noch bewusst. „Alles“ ist relativ, wenn wenig alles ist, ist es für den Betreffenden viel. Eben alles. Friede sei mit „ihnen“, heute. Mich selbst eingeschlossen.

~

Vergebung

So gerne hätte ich dir das persönlich gesagt, aber das sollte wohl nicht sein. Vor Jahren suchte ich deinen Namen auf einer dieser Plattformen, wahrscheinlich haben die allgegenwärtigen Algorythmen dann dafür gesorgt, das dir der meine präsentiert wurde. Ob es nun in meine Richtung ging, ich weiß es nicht genau, aber möglich ist es, dass du mich meintest, in einem deiner Beiträge, in dem du davon schriebst, dass es Menschen gäbe, deren Namen man noch nicht einmal ertragen könne. Ich hätte mich gefreut, wenn es dir gut ginge, leider wiesen deine öffentlichen Einträge eher in eine andere Richtung.

Sehnsucht nach Nähe – die gab es, damals, als wir uns kennenlernten, vor über 3.5 Jahrzehnten. Wir zogen uns an, Gleiches sucht und findet Gleiches, zwei verlorene Kinder, die sich in ihrer Bedürftigkeit in nichts nachstanden, auch wenn deren Erscheinungsformen recht verschieden waren. Ich konnte dich nicht sehen, gefangen wie ich war zwischen Arbeit, Abendschule und der Befriedigung meiner Sucht. Andere sahen dich, wie liebevoll du mit Kindern umgehen konntest, während ich fortlaufend beschäftigt war. Die Rechnung dafür habe ich bekommen und angenommen.

Eine Wiedergutmachung im Sinne des neunten Schrittes, ohne den vergangenen noch weitere Verletzungen hinzuzufügen, ist unmöglich, damit muss ich leben. Du wirst mir nicht vergeben können, zu viel ist damals geschehen. Damit legte ich den Grundstein für mindestens einen weiteren Menschen, der mir aus ähnlichen Gründen bis heute unversöhnlich gegenüber steht. An mir ist es heute, zu schauen, dem so entstandenen Trümmerfeld nicht noch mehr Schutt hinzuzufügen, Wiedergutmachung indirekt an Dritte zu leben und – mir selbst zu vergeben.

*

Bestandsaufnahme 220529

Sonntag früh, nach einer gewohnt unruhigen Nacht Zeit zum sammeln. Den Tag gestern Revue passieren lassen, ein paar stärkende Zeilen lesen, Morgenrituale. Zuhause war Thema gestern, hier. Ich habe ein physisches Zuhause, und dafür bin ich dankbar, in dieser Zeit, in der die Bilder aus den akuten Kriegsgebieten daran erinnern, dass es auch ganz anders kommen kann.

In mir sieht es dagegen wiederum anders aus. Die gegenwärtig anstehenden regelmäßige Besuche bei meinen Eltern erinnern mich daran, wo ich herkomme. Jahrzehnte lang habe ich den Kontakt auf ein Minimum begrenzt und hatte meine Gründe dafür. Das ist nun der Gebrechlichkeit wegen anders und ich stelle mich dem, so gut ich kann. Das ist weniger ehrenwert, als es klingt, damit folge ich lediglich einem als lehrreich erkannten Muster, entgegen dem, was ich einst mitbekommen habe. Innehalten, bleiben. Einfacher wäre – und mehr als einmal spüre ich diesen Impuls – einfach alles stehen und liegen zu lassen. Seht zu, ich haue ab. Mache ich natürlich nicht, weil ich es mir zum einen nicht verzeihen könnte, zum anderen weil ich davon überzeugt bin, dass das Universum auf solch ein Verhalten antwortet.

Was bleibt, ist eine Gemengelage aus anstehenden Aufgaben – das ist der leichtere Teil, den kann ich – und Gefühl, da sieht es anders aus. Heimatlos, was ein innerer Zustand ist und nicht an einen Ort oder an einen Menschen gebunden, verloren in der Welt, innerlich zerrissen, leer. Es ist nicht nur die Folge meiner aktiven süchtigen Zeit, die mich nach Meinung mehrerer Menschen vom Fach einige Nervenzellen gekostet haben soll. Es ist auch die Folge dessen, was ich nun aus der sich ergebenden Nähe erlebe, die Folge des gnadenlosen Blicks auf meine Wurzeln, auf meine familiäre Herkunft. Und nein, es geht nicht um Schuld oder dergleichen, jeder Mensch gibt stets sein Bestes, was nichts über dessen Qualität, über dessen Auswirkungen auf andere aussagt. Niemand, so sagt man, sucht sich bewusst seine Herkunft aus. Alles weitere ist Bestimmung, die sich unserem Verstand entzieht.

Dieses Gefühl, in meinem nur noch einige Tage währenden 60sten Lebensjahr auf einen weiteren Nullpunkt zuzusteuern – was negativer klingt, als es möglicherweise ist. Revue passieren lassen oder Innenschau halten hat immer wieder etwas mit Kapitulation zu tun. So ist es, jetzt. So wird es nicht bleiben – in absehbarer Zeit wird sich vieles gelöst, aufgelöst haben. Die Eltern werden mir voran gegangen sein, mein Berufsleben wird zu einem Ende gefunden haben. Was wird bleiben? Werde ich Heimat finden? Es gibt durchaus Hoffnung. Hoffnung darauf, dass diese Kraft, die Welten erschafft und immer aufs Neue nach Gleichgewicht strebt, auch wenn vorheriges Chaos dazu unerlässlich ist, dass diese Kraft mir dabei helfen kann, so etwas wie eine innere Heimat zu finden. Auch das ist jenseits vom Verstand, ein Gefühl, nicht durchgängig präsent, eher wie ein zarter Spross, der gerade das Licht erblickt. Aber, so scheint es, kräftig genug, um Hoffnung zu verbreiten.

+

Fundstück vom Wegesrand – auch Mauern sind überwindbar.