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Urvertrauen

Unten stehende Zeilen stellen im Kern einen meiner Beiträge in einer Heinz-Kappes-Whatsapp-Gruppe dar. Glaube und Vertrauen, für mich der Boden unter meinen Füßen, heute. Es ist immer noch nicht selbstverständlich für mich, abzugeben, als ein Mensch, der stets gern die Kontrolle gehabt hätte, zu haben glaubte. Ein Mensch, der mit solchen Plattitüden wie „Glauben tun wir in der Kirche“ aufwuchs, ein Mensch, für den Gott allenfalls eine Art strafende Instanz darstellte, der jedem das seine gibt, alttestamentarisch pur. Ein Mensch, der sich zum Ende seines Größenwahnes seinem Schöpfer angeboten hat, ihn abzuholen.

Es war noch nicht die Zeit dazu – Gott sei Dank.

Und das ist meine Lebensgeschichte, dass ich nicht wusste, wohin ich gehe, und dadurch am sichersten geführt war….Man weiß nicht, wohin man geht, wenn man gegangen wird in seinem Leben.

Heinz Kappes – „Von Liebe heimgesucht“ – Abschlussrede AA-Treffen in Basel am 09.05.1978)

Mein Name ist Reiner, ich bin Alkoholiker, heute trocken. Ich habe mir diese beiden Textpassagen aus der langen Rede von Heinz Kappes herausgesucht, weil sie mich besonders ansprechen: Der Umgang mit stetem Wandel, mit Unsicherheiten aller Art, wirtschaftlich und politisch auf gesellschaftlicher Ebene sowie Partnerschaften, Freundschaften, Beziehungen aller Art auf persönlicher Ebene betreffend.

Mein Leben war geprägt von persönlichen Krisen und Veränderungen. Zahlreiche partnerschaftliche Beziehungen, ständig wechselnde Bekanntschaften, deren Bindeglied die gemeinsame Gier auf Rausch war. Die totale, innere Leere in der Kapitulation vor meinem Unvermögen, mit Alkohol und Drogen umgehen zu können. Beziehungsdramen, nüchtern und trocken durchlebt und regelrecht zelebriert. Die zweite große Kapitulation war die vor meinem seelischen Zuschnitt, das andere Geschlecht betreffend, nach 9 trockenen Jahren durchlebt. Ich war mit meinem Willen, mit meinem Ego mehr als einmal komplett am Ende. Und immer, wenn ich überhaupt nicht mehr weiter wusste, konnte ich abgeben, an meine höhere Macht. Natürlich nicht frei und willig, sondern getrieben von Verzweiflung und Angst, die mein ständiger Begleiter war, solange ich denken kann. Mach du, ich weiß nicht mehr weiter, hieß es so oft.

Das kommt auch heute noch öfters vor, aber etwas hat sich geändert. Ich darf zeitig um Führung bitten, nicht erst im Zustand vollständiger Verzweiflung. Mein Ego, mein Verstand machen Pläne, entwerfen Strategien, haben aber nicht mehr das letzte Wort. Eingeprägt hat sich mir der Wunsch, das meine zu tun, soweit ich blicken kann, verbunden mit der Erkenntnis, dass das jeweilige Ergebnis nicht in meiner Macht liegt. IHM das Ergebnis zu überlassen und es annehmen zu können, gleich, wie es ausfällt. Manche nennen es Gottvertrauen, andere Intuition oder Urvertrauen, für mich ist es auch heute noch alles andere als selbstverständlich, abgeben zu dürfen, zu vertrauen, mich führen zu lassen. Es ist dies das größte Geschenk meiner Nüchternheit, mein Ego SEINEM Willen unterordnen zu können.

*

Neuss

Pläne und Strukturen sind auch dazu gut, manchmal über den Haufen geworfen zu werden. Eigentlich waren wir für den heutigen Sonntag verabredet, haben dann aber mit Blick auf die Wettervorhersage umdisponiert und den Tag gestern genutzt, der wirklich das gehalten hat, was die Wetterfrösche prophezeiten.

Also den Einkauf vorgezogen und die Wohnung fein schmutzig gelassen. Gut sein gelassen also, kann ich auch heute noch machen. Oder sonst wann. Gibt wichtigeres. Menschen eben, zum reden und draußen sein. Austausch, Energie, Vertrautheit. Wir sind uns als Fremde begegnet und haben durch unser beider Erkrankungen in den Gruppen der für einige Wochen gemeinsamen Einrichtung schon mehr von einander erfahren und schätzen gelernt als das meist da draußen in Jahren der Fall ist. Etwas besonderes, für uns beide.

Also Fahrpläne gecheckt, das Fahrrad mitgenommen und rein in die R4, in`s Rheinland – Vorfreude beim queren des Rheins. Ich war lange nicht mehr unterwegs und bin froh, im flachen Land zu fahren, hier hat man es nur mit Wind zu tun, aber eben nicht mit den heimischen Bergen.

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Nach einem Kaffee kurz in den Münster …

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Noch ein Eindruck des Städtchens, bevor es in`s Grüne geht.

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Geschichte …

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Schlammbewohner…

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Farben und Felder

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Die Daten-technisch etwas verbesserungsbedürftige Beinahe-Runde (so einige planlose Schlenker könnten glatt gezogen werden, sorry, keine Lust), kann hier heruntergeladen werden.

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Fazit: Ein guter Tag, einer von denen, die es nicht so oft gibt. Es gibt zwar mittlerweile eine Menge guter Tage, aber gute und schöne Tage sind schon rar. Tage mit Vertrautheit und Nähe einerseits sowie mit Licht, Luft, und Sonne andererseits.

Danke dafür.

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Denn Du bist, was Du isst…

Über Pfingsten weilten wir aus familiären Anlass wieder einmal im Harz. Es galt, den Geburtstag eines lieben jungen Menschen zu feiern, die Anverwandten hatten dazu einen Tisch reservieren lassen. Der Liebsten und mir als die später hinzugekommenen wurde mitgeteilt, es ginge um Slow-Food, einem etwas irreführenden Modewort, das hauptsächlich für regionale und saisonale Küche steht, also nicht ausschließlich für langsames Essen.

Das klingt gut, und so fahren wir mitten in den tiefsten Harz, nach Buntenbock bei Clausthal-Zellerfeld. Das kleine Landhaus liegt, so scheint es, am Ende der zivilisierten Welt, märchenhaft am Waldesrand, umgeben von einem liebevoll gepflegten Wildgarten.

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 Ohne Zweifel habe ich schon sehr lange nicht mehr so gut und reichhaltig gegessen. Die Verköstigung ist hauptsächlich für Hotel-Gäste gedacht, mir waren die Verhältnisse fremd und so erkundigte ich mich zur Fassungslosigkeit der Anverwandten nach dem Preis für das Mahl. Der wurde mir nach einigen Zögern auch mitgeteilt, es ist in diesen Kreisen offensichtlich nicht üblich, über Geld zu reden. Die anderen Gäste in der liebevoll hergerichteten Bauernstube bestanden überwiegend aus älteren, bereits ergrauten Semester, den Kleidern und dem Gebaren nach mutmaßlich beruflich erfolgreiche Grünen-Klientel.

Utopie ist die Realität von morgen. So in etwa steht es über den Eingang zur Küche, die anderen Wände sind mit eher bäuerlichen Weisheiten verziert, die der Versuchung und der Völlerei den Boden bereiten sollen. Das Essen war, wie gesagt, vorzüglich, und mit gemischten Gefühlten lasse ich mit vollen Bauch den Abend Revue passieren.

Auch ich bin ein Anhänger von saisonalen und regionalen Speisen, von daher gefällt mir der Grundgedanke sehr gut. Was mich stört, ist der elitäre Charakter der Örtlichkeit. Ein kleines Paradies für gut Situierte, Kinder suchte man dort vergebens, von unseren Tisch einmal abgesehen. Wer die Preisliste der Lokalität studiert, wird das schnell verstehen. Das ist definitiv kein Domizil für Familien mit Kindern, die mit Geld rechnen müssen.

Zuhause bereite aus Zeitgründen meist ich das Essen zu, einfache Speisen mit reichlich Gemüse, vorzugsweise im Wok zubereitet. Fleisch gibt es bei uns sehr selten, unser Eiweiß-Bedarf wird durch Soja-Produkte in Verbindung mit guten Öl gedeckt. Den Ausschlag gaben vor vielen Jahren gesundheitliche Probleme, also zunächst einmal keine moralischen Skrupel. Erst mit der Zeit setzte ich mich mit der industriellen Massentierhaltung auseinander, mit dem, was wir unseren Mitgeschöpfen über unser Konsumverhalten antun.

Tief bewegt las ich vor einiger Zeit dieses Buch hier. Der Autor setzt sich mit unserem Verhalten der Schöpfung gegenüber auseinander, aus Männer-Perspektive, was aber durchaus auf die Weiblichkeit übertragbar ist. Dort ist unter anderen von der Kraft eines Wildtieres die Rede, welche wir zu uns nehmen, wenn wir es verzehren. Es wird dort ebenso in eindringlichen Worten davon gesprochen, was wir zu uns nehmen, wenn wir Tiere aus Massentierhaltung essen: Angst, Panik, und Verzweiflung. Wer das nicht glauben mag, kann vielleicht eher mit dem mittlerweile bewiesenen Zusammenhang zwischen Emotionen und Stoffwechsel etwas anfangen. Von Medikations-Rückständen will ich hier nicht reden.

Was also ist die Lösung, in unseren Post-industriellen Zeitalter, in dem Essen und Trinken kulturell geprägt sind und das Geld bei vielen nicht für hochwertige Speisen reicht? Aufklärung schon bei den Kindern tut Not, diese lernen schneller und bereitwilliger als ihre Vorfahren. Noch mehr Angebote zur gesunden Küche daheim, über VHS-Seminare und Filme. Ausbau der kollektiven, regionalen Landwirtschaft, auch hier in der Nähe gibt es seit kurzen so etwas, wo man sich mit Geld oder mit Zeit einbringen kann.

Mir war vor vielen Jahren ein VHS-Seminar über die chinesische Küche sehr hilfreich, meine Ernährung umzustellen. Das geht auch mit wenig Geld und ohne großen Zeitaufwand. Fleisch ist, wie gesagt, hier die Ausnahme, und wenn ich alle paar Wochen einmal etwas kaufe, gebe ich gerne mehr dafür aus. Nicht, um mein Gewissen zu beruhigen, sondern aus oben genannten Gründen.

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Nachspüren & sacken lassen

Das deutschsprachige Ländertreffen der anonymen Alkoholiker DLT 2016 in Bremen ist vorbei. Es war für mich das dritte große Treffen dieser Art, nach Augsburg vor zwei Jahren und wiederum Bremen vor 10 Jahren. Den Tag heute habe ich mir frei gehalten, um die vielen Eindrücke noch einmal Revue passieren zu lassen, bevor der Alltag mich wieder in seine Fänge hat.

So viele Menschen. Über 3200 Einschreibungen gab es diese Jahr, davon knapp 1000 Familien-Angehörige der ALANON-Gruppen – der „Rest“ betroffene Suchtkranke wie ich. Alle gemeinsam auf dem Eröffnung- und Abschluss-Meeting und in sehr großen Gruppen in den zahlreichen Themen-gebundenen Meetings. Wenn man wie ich und viele andere nur „kleine“ Gruppen von vielleicht bis zu 15, 20 Freunden kennt, ist es schon sehr bewegend, ein Meeting mir mehreren 100 Freunden gemeinsam zu teilen.

Zwei davon habe ich am Samstag besucht. Das Eine hatte den Themen-Schwerpunkt Angst und Depressionen als „Nebenwirkung“ des Alkoholismus. Anfangs hatte ich mit dem Wort Nebenwirkung meine Schwierigkeiten, war mein Leben doch solange ich denken kann, von Ängsten geprägt. Der Stoff hat mir lange Jahre eine Art Parallelwelt erschaffen, in der ich mich scheinbar angstfrei und meiner selbst etwas sicherer bewegen konnte. Rückblickend kann ich sagen, das meine persönliche Nebenwirkung darin bestand, mich nicht mit meinen Ängsten auseinandersetzen zu können und einen Weg in Richtung Heilung, Frieden finden zu können. Was immer nur platt geschlagen wird, löst sich eben nicht. Erst mit Beginn meiner Trockenheit konnte daran etwas ändern, mit viel Geduld (mit mir selbst – oft sehr schwer) und Beharrlichkeit bin ich seitdem auf einem guten Weg.

Das andere Meeting hatte den Themen-Schwerpunkt Glaube und Spiritualität. Das wichtigste für mich war und ist die Erkenntnis, das ich mit meinem dicken Ego eben nicht der Herr der Dinge bin, das ich seit dem letzten Rausch einen mich liebenden Gott als übergeordnete Instanz anerkennen darf. Das ist ein roter Lebens-Faden, den sehr viele andere Betroffene ebenso finden durften. Mein Wille und SEIN Wille, die Macht des elften Schrittes trägt mich bis heute, für heute:

Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott – wie wir Ihn verstanden – zu vertiefen. Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.

Es hat mich unglaublich bewegt, bei diesen beiden Meetings die Erfahrungen der anderen Freunde teilen zu dürfen. Wie lange Zeit habe ich alles mögliche ausschließlich mit mir selbst ausmachen müssen, oft genug erfolglos und mit dem latenten dumpfen Gefühl, nicht alle Latten am Zaun zu haben 😉 Heute bin ich dankbar, „anders“ sein zu dürfen, mit alledem, was zu mir gehört.

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PS: Bremen ist auch sonst eine Reise wert. Eine sehr schöne Altstadt mit dem niedlichen Schnoor-Viertel. Leider kam ich nicht ausgiebig zum fotografieren, beim nächsten mal bringe ich mehr Zeit mit.

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Essen, trinken & Wertschätzung

Heute morgen gesehen: West Art, Bauer sucht Zukunft (WDR)

Das war eine interessante Diskussionsrunde, heute früh. Sehr unterschiedliche Vertreter in Sachen Lebensmittel-Erzeugung und Verwertung saßen zusammen: Ein klassisches Landwirts-Paar, ein Vertreter eines solidarisch betriebenen Hofes, ein Filmemacher zum Thema, ein Suppen-Koch sowie eine Journalistin. Es ging in der Hauptsache um die Wertschätzung von unserer Ernährung, um industrielle Landwirtschaft und den Alternativen dazu.

Wie halte ich das für mich? Seit langer Zeit schon stopfe ich nicht mehr alles gedankenlos in mich hinein, Hauptsache billig und schnell. Angefangen hat das, wie so oft, nicht aus Einsicht oder Achtung vor dem Leben, sondern durch Leid, sprich Krankheit, in meinem Fall Arthritis in den Kniegelenken. Der Orthopäde damals meinte: Tja, Knorpel kaputt, kann man nix machen, treiben `se Sport, gezielt. oder lassen `se sich künstlichen Knorpel spritzen, kosten nur 300 Euro im Jahr, müssen `se selbst zahlen.

Schönen Dank, Herr Doktor.

Damit mochte ich mich nicht abfinden und begann, zu recherchieren, was ich tun könnte. Im Netz las ich über die traditionelle chinesische Medizin, TCM, Die Chinesen kennen keine zwei unterschiedliche Begriffe für Nahrung und Medizin, so wie wir, sondern benutzen dafür bezeichnender Weise nur ein Wort. Ein sehr gutes Buch zu dem Thema fand Eingang bei mir und zunächst las ich über die Wirkung unserer Nahrung auf den Stoffwechsel, speziell über Entzündung-fördernde und -hemmende Nahrung. Auf einen Teil des so genanntes rotes Fleisches, also Rind und Schwein in allen ihren Handelsformen habe ich seitdem verzichtet und mit ein wenig Geduld ging es mir von Woche zu Woche besser.

Erst langsam kam kam dieses Gefühl hinzu, was man allgemein mit Achtung vor dem Leben umschreibt. Gut in Erinnerung dazu ist mir ein Film, der damals hier im Programmkino lief: Ayurveda:The Art of Being. Gerade eine Szene ging mir nicht wieder aus dem Kopf. Der Helfer des Dorfarztes ging regelmäßig Heilkräuter schneiden, bat jede Pflanze um Verzeihung, bevor er sich bediente und bedankte sich anschließend. Auf der genau gegenüber liegenden Seite der Wirklichkeit dann Bilder der Massentierhaltung, Widersprüche, die krasser nicht sein können.

Andere Eindrücke kamen hinzu. Unvergessen ist mir ein Seminar der Volkshochschule in Sachen chinesische Küche. Der kleine Chinese, der uns in die Kochkünste seiner Heimat einwies, war klasse. Er erzählte viel von dem Leben der ländlichen Wanderarbeiter, die auch wie wir modernen Menschen wenig Zeit zum kochen hatten und darum puristisch und minimalistisch vorgingen. Wir wurden genauso ausgestattet wie sie damals: Ein Holzbrett zum schneiden, eine Wok-Pfanne, das chinesische Hackmesser, ein phantastisches Universalwerkzeug, zum schneiden, wiege-schneiden, hacken, platt schlagen, schaufeln. Ein kleines Küchenmesser zum Blumen schneiden, wie er es nannte, also Dekorationen aus Gurken und Gemüse aller Art schnitzen. Ein Kochtopf für den Reis oder für Teigtaschen, fertig. Vielleicht noch ein Rundholz für letztgenannte dazu. Die paar Sachen hätten mühelos auf jeden Handkarren gepasst und heute passen sie in jeden noch so kleinen Küchenschrank. Wir lernten einiges über Garzeiten, über Effektivität beim zubereiten, über Gewürze, Tricks und Kniffe beim garen von Gemüse und Reis, Abfolgen, wie der Wok zu füttern ist, abhängig von den verschiedenen Zutaten. Und haben gemeinsam mit Genuss alles am Ende aufgegessen.

Im Kern bekochen wir uns bis heute solcher Art schlicht und meistens fleischlos. Es gibt genug wertvolle pflanzliche Eiweißlieferanten und tolle Öle, die uns helfen, diese zu erschließen. Wenn schon Fleisch, dann selten Fisch oder noch seltener mal ein ganzes Huhn, wobei mir heute wichtig ist, eines zu erstehen, was wenigstens zu Lebzeiten frei draußen herumlaufen konnte. Das Argument des Preises ist dann vernachlässigbar, wenn Fleisch wieder zu dem wird, was es früher einmal war:

Etwas ganz besonderes, was es nur selten gibt.

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Wiedersehen

Einige Jahre haben wir uns nicht gesehen, zuletzt mal gehört vor zwei Jahren. Seinen Geburtstag kenne ich, nicht weit von meinen eigenen entfernt. Diesen Sommer schrieb ich ihm eine SMS mit den üblichen guten Wünschen. Nach anfänglichen Unsicherheiten, „welcher Reiner bist Du denn, wir haben da mehrere…“  folgte eine Antwort und einige Wochen später ein Anruf. Recht lang haben wir gesprochen und auf meine Frage nach der Gesundheit folgte erst einmal nur ein „hör`bloß auf “ Das sie ihm letztes Jahr den kompletten Magen entfernt hätten. Ein langes Jahr Zwangspause mit dem ganzen Programm, Reha, Chemo und so weiter, aber jetzt ginge es wieder, bisken gemacher alles, aber es ginge. Dann eine Beratschlagung, beiderseitiges Kalender-wälzen und ein Termin wurde festgelegt, weil es nicht anders geht, so unverbindliches „wir sollten uns mal sehen“ verläuft sich doch im ungefähren.

Vieles ging mir in den letzten Tagen und Wochen durch den Kopf. Unsere gemeinsame Zeit, angefangen für uns als Lehrlinge mit zarten 16 Jahren. Sein Kellerzimmer im elterlichen Haus, jeden Freitag nicht nur mein zweites Wohnzimmer. Ein damals schon uralter Röhrenverstärker, Vatter`s Bier aus der Waschküche nebenan und das Wochenende ging los, jung, wie wir waren. Später trennten sich die Wege, unterschiedliche berufliche Ausrichtungen einerseits, auch privat verlief sein Leben anders als meines, seine Kinder sind heute schon erwachsen. Die Treffen wurden seltener, blieben aber regelmäßig. Was uns  äußerlich verband, war neben unseren gemeinsamen Beruf eine gnadenlose Gier auf Rock`N Roll und Neptun`sche Traumwelten, zwei Meister im Parallel-Universum. Echt waren wir beide dennoch, jeder auf seine Art, vielleicht war es das, was wir an einander auch später immer noch schätzten. Keiner hat je dem anderen irgend ein Schauspiel vorgemacht und laut lachen konnten wir zusammen, beide schräg unterwegs, wie wir waren.

Da tauchen in den letzten Tagen unzählige Bilder aus der Vergangenheit auf. Er, der geborene Entertainer, laut, schnell, auch schnell überall zuhause, kontaktfreudig wie er war. Dabei ein nervöses Hemd vor dem Herrn, groß gewachsen und rappeldürr sehe ich ihn vor mir, seinem Gegenüber stets mitten in die Augen schauend und wild gestikulierend mit Händen und Füßen zur Rede. Ein Vereinsmensch, stets ausgebucht, daneben noch Fußball-begeistert, voll der Wohnzimmer-Hooligan, eine Leidenschaft, die ich übrigens nie teilen konnte.

Vor fast 14 Jahren dann trennten sich unsere Wege scheinbar endgültig. Das Tor zu den Neptun`schen Traumwelten schloss sich für mich aufgrund meiner Vergesslichkeit (ich vergaß stets das aufhören…), er dagegen ging weiter wie gehabt, vielleicht eine Spur ruhiger, aber von einem hohen Niveau ausgehend. Was blieb, waren gelegentliche Telefonate oder Kurznachrichten.

Bis gestern Abend eben. Meine große Sorge war, das wir uns in den endlosen, gemeinsamen Episoden verlieren, eine Beschäftigung mit Unterhaltungswert, die sich allerdings schnell erschöpft. Daneben Neugier. Wie geht der wohl heute durch`s Leben, was mag er anfangen, mit seiner Fristverlängerung. Wie ist das eigentlich, ohne Magen zu leben, was für Auswirkungen hat das auf den Alltag. So Fragen halt.

Dann steht er hier in der Tür, mit seine Frau. Das gleiche, schiefe Jungen-Grinsen wie damals, ein wenig ernsthafter die Augen, noch schmaler im Gesicht. Lang und dünn war er immer, kein Platz für Bauchschmerzen hat der, so hieß es früher. Wie makaber klingt das heute. Wir sitzen zusammen und nach einer recht kurzen, gemeinsamen Unsicherheit hellt sich die Stimmung auf. Gestern ist schon präsent, aber beherrscht zu meiner großen Erleichterung nicht unser Treffen. Hier und jetzt sind wir alle miteinander beim folgenden, gemeinsamen Essen draußen um die Ecke. Er ist äußerlich ganz der Alte, nur gezwungener Weise langsamer beim essen und trinken. Lebensfreude spüre ich, energiegeladene Wärme. Gelächter fliegt hin und her über den Tisch, laut wie eh und je. Ansteckend ist er in seiner Lebendigkeit und die Stimmung ist gut, trotz oder gerade wegen mancher Schilderung der jüngsten, leidvollen Vergangenheit, die Gott sei Dank überstanden scheint. Sätze, die mir in den Ohren klingen. Lieber ein Jahr Überholspur als 10 Jahre Standstreifen, tönt er, seinen Nimbus pflegend. Ein Mensch wie Quecksilber, welches allenfalls das Tempo ein wenig gedrosselt hat. Dahinter schimmert leise das Wissen um die eigene Endlichkeit und um die gesetzten Grenzen, aber hausieren muss man ja damit nicht unbedingt gehen. Toll, denke ich. Er und auch ich, wir beide kennen Menschen, die an der bloßen Diagnose schon zerbrochen sind. Was ist, wenn ich...denke ich weiter und weiß doch, das ich das erst heraus bekomme, sollte ich irgendwann selbst einmal davon betroffen sein .

Ein schöner Abend war das, meinen Befürchtungen zum Trotze. Für uns alle vier, was mich zusätzlich sehr freut. So Gott will, sehen wir uns wieder, und ich glaube, er will…