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Ein zerlegtes Gedicht

Das neue Jahr ist 10 Tage jung, Vorsätze hatte und habe ich keine. Was nicht daran hindert, so etwas wie eine Inventur zu machen. Macht man sonst bekanntlich eher am Jahresende, aber da war ich gerade zu sehr beschäftigt, um Worte dafür zu finden, wo ich gerade so stehe. Als Orientierung im Leben dienen mir immer noch und immer wieder die 10 Gebote obenan sowie die 12 Schritte der anonymen Alkoholiker – die unter anderen besagen, Inventur sei dann zu machen, wenn sie von Nöten ist, wenn es sein muss, auch täglich. Kann nebenbei bemerkt auch für Menschen ohne Suchterkrankung von Vorteil sein. Für eine Art geführte Innenschau gehen mir die Zeilen eines meiner Lieblings-Gedichte seit einiger Zeit durch den Kopf. Hat der selige Joseph vielleicht nicht so vorgesehen, aber gram wäre er mir sicher nicht, denke ich. Na dann.

Lass dich fallen.
In Gottes Hand gerne, im menschlichen Miteinander nur bei entsprechenden Vertrauensverhältnis, das eher selten ist, in meinem Leben.

Lerne Schnecken zu beobachten.
Mache ich gelegentlich, Schnecken sind faszinierende Tierchen. Klar werden die nicht von jedem gemocht, als Gärtner würde ich sie sicher anders sehen. Als gelegentlicher Beobachter dagegen staune ich, beim betrachten. Langsamkeit pur, aber ankommen tuen sie, wo auch immer. Diejenigen unter ihnen, welche ihr Heim mit sich umher tragen, sprechen zum einen die rein praktische Seite in mir an, als Kind eines ehemaligen, begeisterten Campers. Andererseits steht diese stets parate Heimstatt auch für Geborgenheit, allerorten.

Pflanze unmögliche Gärten.
Mangels grünem Daumen überlasse ich das gerne der Liebsten, die es Jahr für Jahr schafft, unsere graue, das Straße zugewandte Loggia mittels geschickt bepflanzter und positionierter Blumenpötte in einen heimeligen Ort zu verwandeln

Lade jemand Gefährlichen zum Tee ein.
Das verstehe ich als Gleichnis, welches den Umgang mit Menschen in eher gehobenen Positionen betrifft, oder besser solchen Positionen, die gesellschaftlich als „gehoben“ angesehen werden. Menschen mit Macht und Einfluss also, keine potentiellen Betrüger oder Gewaltverbrecher. Wobei selbst solche Gott sei Dank selten im Leben aufmerksame Gegenwart erfordern können. Dem Kontakt mit erstgenannten dagegen weiche ich nicht aus, sofern der Umgang von gegenseitigen Respekt getragen ist. Da kann Mensch auch schon mal im übertragenen Sinne miteinander Tee trinken, was in der Praxis meist kurze Plauderei bedeuten kann. Achtsame Plauderei wohlgemerkt, getragen von Respekt und nicht von Opportunismus.

Mache kleine Zeichen, die “Ja” sagen
und verteile sie überall in deinem Haus.
Die gibt es, in Form von Bildern, Figuren und Dingen, denen man ihre Bedeutung nicht auf Anhieb ansieht.

Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit.
Für mich ein eher ambivalentes Thema, widerspricht diese Freundschaft doch meinem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis. Andererseits ist das Leben eben genau so, dass so eine Freundschaft einen Sinn macht. Auch mit aller Umsicht kann Mensch sich schneller als geglaubt in privaten und/oder wirtschaftlichen Untiefen befinden. Da hat es mir stets gut getan, solche Turbulenzen auch als Reset zu betrachten, im Sinne von Freiheit, neu wählen zu dürfen.

Freue dich auf Träume.
Kommt sehr auf die Art der Träume an.

Weine bei Kinofilmen.
Oh ja, das kann ich, daheim beim streamen, aber auch im Kino, die hoffentlich überleben und irgendwann wieder öffnen werden.

Schaukel so hoch du kannst mit einer Schaukel bei Mondlicht.
Unbeschwertheit: Lasse ich eher selten zu. Noch.

Pflege verschiedene Stimmungen.
Das gelingt mir gut. Würde ich sie nicht pflegen, hätte ich es nicht nur mit meinen verschiedenen Stimmungen zu tun, sondern auch noch mit meiner Abneigung dagegen. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass ich jeden Wolf in mir füttere.

Verweigere “verantwortlich” zu sein. Tu es aus Liebe.
Da möchte ich hin, dass ist eines meiner klar definierten Ziele für die Zeit nach meiner Berufstätigkeit, die natürlich auch mit einer Menge Verantwortung zu tun hat. Verantwortung aber auch für Menschen, die sich nicht (mehr) selbst helfen können. Liebe? Gibt es in diesem Zusammenhang, ist (für mich) aber keine Grundvoraussetzung für verantwortliches Handeln. Verantwortung beschreibt auch den Umgang mit den mir leihweise überlassenen Dingen. Ein weites Feld also, für mich.

Mach viele Nickerchen.
Sehr gerne!

Gib Geld weiter. Tu es jetzt. Das Geld wird folgen.
Der Umgang mit Materie: Bedingt Klugheit und Verantwortung. Wer nichts halten kann, findet sich schnell in bitterer Armut wieder. Wer alles halten will, hat gute Chancen, einen frühen Herztod zu erleiden, getrieben von Gier und Geiz. Es gibt sie durchaus, die gesunde Mitte, welche das eigene Wohl ebenso wie das der Nächsten im Visier hat.

Glaube an Zauberei.
Ja! Nicht im esoterischen Sinne, eher im Sinne von glücklichen, göttlichen Fügungen.

Lache viel.
Geht so. Wenn, dann auch gerne unanständig laut.

Bade im Mondlicht.
Bei jeder Gelegenheit, die allerdings selten sind.

Träume wilde, phantasievolle Träume.
Davon gibt es reichlich.

Zeichne auf die Wände.
Eher nicht. Noch nicht.

Lies jeden Tag.
Ja!

Stell dir vor, du wärst verzaubert.
Das ist definitiv so 🙂

Kichere mit Kindern.
Sehr gerne, falls in meiner Nähe.

Höre alten Leuten zu.
Ebenfalls sehr gerne, sofern da mehr kommt als stetes kreisen um die eigenen Gebrechen.

Öffne dich, tauche ein, sei frei.
Kann ich, im Sinne von mitfühlen ohne mit zu leiden.

Segne dich selbst.
Als ich diese Aufforderung zum ersten Mal las, dachte ich, das ist doch anmaßend, darf ich das? Ich darf das, weiß ich heute. Mich selbst segnen hat nichts mit Anmaßung zu tun, sondern beschreibt einen liebevollen Umgang mit mir selbst.

Lass die Angst fallen.
Tägliche Übung.

Spiele mit allem.
Eher selten, aber ich arbeite daran. Katzen sind dabei ausgesprochen hilfreich.

Unterhalte das Kind in dir.
Wir haben Frieden miteinander. Meistens. Unterhaltung bekommt es auch, das Kind. Nicht zuletzt beim schreiben 🙂

Du bist unschuldig.
Worte, die ich kürzlich noch jemanden geschrieben habe. Schuld ist ein Konstrukt, welches Vorsatz voraussetzt, glaube ich. Jeder Mensch ist Teil von zahllosen Verwicklungen, und auch in meinem Leben gibt es Episoden, in denen mein Tun und Lassen weit reichende Folgen für andere hatte, aus Bedürftigkeit, aber auch aus Unreife. Bin ich schuldig? Es war nicht wieder besseren Wissens. Ich lerne, mir selbst zu vergeben, von außen gibt es keine Absolution.

Baue eine Burg aus Decken.
Vorzugsweise des Nachts. sollten sich hier mal Kinder finden, gerne auch am Tag. Obwohl die Katzen auch Deckenburgen lieben…

Werde nass.
Wenn es sein muss.

Umarme Bäume.
Selten, als Stadt-Mensch. Kommt aber vor.

Schreibe Liebesbriefe.
Nee … ich lebe sie, zeitweise.

~

Alles auf Null

Die derzeitige Lage berührt jeden, mögen auch die Lebensbereiche verschieden sein. In meinem Umfeld erlebe ich auf der einen Seite pure existenzielle Sorgen, andererseits sehe ich Menschen, die nun wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung machen, dass es nicht reicht, Rücklagen zu bilden, weil man eines Tages feststellen muss, dass es wenig bis nichts dafür zu kaufen gibt. Hilfe im Alltag ist schwieriger zu organisieren. Soziale Kontakte. waren immer schon unbezahlbar, nun sind sie es erst recht.

Selbst erfahre ich derzeit schmerzlich den Stillstand in der Selbsthilfe. Virtuelle Medien in Form von Mail-Chats, Telefon-Meetings oder Videokonferenzen sind Alternativen, die besser als nichts sind, aber längst nicht jedem liegen, sei es mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, damit klar zu kommen, sei es nicht vorhandenes, schnelles Internet (ja, ich habe auch gestaunt, dass es so etwas noch gibt). Übrigens – wer sich gerade auf die Suche nach einem Webcam-Headset-Kit macht, erlebt tolle Auswüchse vom Raubtier-Kapitalismus, frei nach der alten Regel rar = teuer.

Wohl dem, der wenigstens noch einen alten Laptop mit entsprechendem Equipment besitzt. Was dann wiederum zu ungewohnten Überlegungen führt. Freestyliger Haus-Dress kommt nicht so richtig gut, wenn man sich die Öffentlichkeit in`s Wohnzimmer holt und selbst der so genannte Kamera-Hintergrund, also der Grad an Sauberkeit, Ordnung und die möglicherweise zu gewollten Selbstdarstellung inszenierte Ästhetik gilt es zu beachten. Ungewohnt, wenn man sonst so wie ich am Schirm sitzt, seine Gedanken in die Tasten fließen lässt und den Bereich hinter mir als Nirvana wahrnimmt. Ist hinten, geht mich nix an – von wegen…

Was mich derzeit ebenso beschäftigt, sind die so genannten Big Five, von denen ich neulich irgendwo im Netz gelesen habe. Dahinter steht das Aufschreiben von fünf Dingen, Umständen, Wünschen, Visionen, Unternehmungen, wie auch immer, die man vor seinem Tod noch realisieren möchte. Eine Übung, die nicht einmalig in Stein gehauen, sondern täglich aktualisiert werden möchte und mit Menschen des Vertrauens geteilt werden kann. Als ein Mensch, der ab und zu noch in der Vergangenheit gräbt, aber ansonsten gelernt hat, in der Gegenwart mit ihren täglichen Herausforderungen zu leben, hat mich einigermaßen überrascht, wie wenig mir zunächst dazu einfiel. Nach einer Weile kam dann doch das Eine und Andere zusammen. Einiges hängt mit meinem spirituellem Wachstum zusammen, ein Punkt jedoch passt ganz gut zum Thema oben im Eintrag.

Netzwerke – steht da auf dem Zettel. Ausgelöst einerseits durch die beobachtete Erfahrung mir nahe stehender Menschen, die plötzlich realisieren, dass es eben nicht alles für Geld zu kaufen gibt, andererseits natürlich auch der aktuellen Situation geschuldet, in der von staatlicher Seite zur Vereinzelung und Selbstisolation aufgerufen wird – was ich mit Blick auf die Gefahr von Ansteckung zum Teil nachvollziehen kann. Zum Teil meint – ich bin mir nicht sicher, ob den Verantwortlichen (die meiner Meinung nach aus eben dieser ihrer Verantwortung, unsicher, wie sie sind, teils kräftig überziehen) klar ist, dass Isolation und Einsamkeit ebenso tödlich sein können wie Viren. Netzwerke bestehen für mich persönlich derzeit überwiegend aus der geistig-seelischen Verbundenheit mit den Freundinnen und Freunden aus der Selbsthilfe, in Sachen Sucht-Erkrankung. Allerdings spanne ich den Bogen zunehmend weiter, verbunden mit der Frage. wo, wie und möglicherweise mit wem wir im Alter gerne leben möchten. Hätte nicht gedacht, dass mir das so schwer fällt, gibt es doch so vieles gegeneinander abzuwägen.

Die fortschreitende Zeit und ein zunehmendes Hungergefühl lassen mich wieder in der Gegenwart ankommen – im Jetzt und Hier. Planspiele sind nicht ohne, eh wir uns versehen, bestimmen sie die künftige Gegenwart. Mal schauen, wie sich das alles miteinander vereinbaren lässt – Leben bleibt spannend.

KONICA MINOLTA DIGITAL CAMERA

*

 

 

 

 

Höre alten Leuten zu …

Der Titel stammt aus meinem Lieblingsgedicht von Joseph Beuys, „Lass`dich fallen“ oder auch „How to be an Artist“. Bei alten Frauen ist mir das meist recht leicht gefallen, viele von ihnen plaudern gerne, bei Gelegenheit. Ältere Männer sind anders. Die sind mehr für sich, glaube ich, in ihrer Welt aus reichlich Vergangenheit, der Gegenwart, und der sehr überschaubaren Zukunft.

Ausnahmen bestätigen das wohltuend, so wie heute Nachmittag. Getrieben von dem Wunsch, noch wenigstens ein Stündchen an die Luft zu kommen, in der Hoffnung, mein Kopfweh loszuwerden, fuhr ich bis zum alten Bahnhof Loh, an unserer Nordbahntrasse nebenan. Da saß er, mit schneeweißem Haar allein auf einer Bank unter dem alten Bahnsteigdach, schön im Schatten. Mit meiner hellen Haut liebe ich die Sonne auch nur begrenzt, also nehme ich neben ihm Platz.

Das Wetter – damit kommt man jetzt gerade immer in`s Gespräch. Toller Sommer, die armen Bauern, das wenige Getreide, aber das viele Obst. Was man alles heute gesund finden solle und wer da was von hätte. Früher war alles anders – eine Aussage, die ich mittlerweile nicht mehr spöttisch belächle, weil auch ich heute etwas von „früher“ erzählen kann, wenn auch nicht so viel.

Die vielen fremden Menschen hier im Land – wäre nicht gut. Flucht kennt er, bei Kriegsende war er gerade vier Jahre jung und mit seiner Mutter von Oberschlesien über Regensburg hier her gekommen. Dort in Regensburg trafen die beiden den Vater, frisch aus der Kriegsgefangenschaft. Ohne Internet und Telefon, so richtig mit Fügung, wie er sagt. Da hat jemand geguckt, für uns ...Er ist im übrigen etwas fassungslos, das jeder Flüchtling ein Mobilphon hat, wie das sein könne. Mein Einwand, das diese Dinger ja halt die einzige Verbindung zur Heimat seien, und somit teils wichtiger als ein paar Schuhe, nimmt er schweigend hin.

Er erzählt von seiner Flucht, von den Russen. Den schlimmsten Fehler, sagt er, den man machen konnte, war, die Haustür abzuschließen, wenn sie kamen. Dann wurden sie wild, wie er sagt, und brachten alle um, die sie vorfanden. Verstehen Sie das, fragt er mich und blickt mich durchdringend an. Ich nicke stumm. Seine Mutter wusste das und riss darum Türen und Fenster auf, wenn sie kamen. Er wurde von den Soldaten stets misstrauisch beäugt, der kleine blonde Junge. Germanski, sagten sie, aber nicht feindselig. Der Offizier schlief dann auf dem Bett, mit Stiefeln an den Füßen. Er solle sie ruhig ausziehen, sagt die Mutter irgendwann zu ihm, worauf ihr eindringlich klar gemacht wurde, dass man jederzeit mit den Deutschen rechnete … es stirbt sich halt schneller, auf Socken.

Wir erzählen eine Menge, sitzen bestimmt eine gefühlte Stunde zusammen, während der Wind unter dem Bahnhofsdach etwas frösteln lässt. Ich erzähle von meinen Eltern, die hier in der Stadt aufgewachsen sind. Drei Generationen, sage ich, braucht es, um wieder mit der Welt klar zukommen, nach solchen Kriegen. Das mein großes Kind der erste in unserer Familie ist, der emotional nichts mehr damit zu tun hat.

Der alte Mann erzählt von seiner längst erwachsenen Tochter, die in England studierte. Die EU heute, die Reisefreiheit, die Politik, Assimilation, (er nennt es nicht so, meint aber das gleiche), der Seehofer – der im übrigen ja nicht so ganz unrecht hätte, mit dem, was er sagen täte. Die AfD und ihre potentielle Mehrheitsfähigkeit in der Gesellschaft, die Brüder im Geiste bei der FDP, was die Wirtschaftspolitik anginge, und so weiter.

Eh wir uns versahen, waren wir bei Hitler und Göbbels. Er wäre fassungslos, das die Menschen die zwei damals so verehrten, dat waren doch zwei ausgesprochen schäbbige Kerle, meint er, während ich sinniere, dass Dämonen keinem Schönheitsideal entsprechen müssen. Überhaupt, die Äußerlichkeiten sind sein Thema. Die von der Linken da, das wäre ja `ne Granate, und der Oskar wäre ein echter Glückspilz – wir lachen beide herzhaft, auch wenn er der Meinung ist, dass die Wagenknecht ja in der falschen Partei wäre. Das will ich nicht weiter vertiefen, obgleich es schon eine Erörterung wert gewesen wäre, die Frage nach der richtigen Partei, So langsam drängt auch die Zeit zum Aufbruch.

Wir verabschieden uns, mir gefällt sein kräftiger Händedruck. Vielleicht sieht man sich wieder hier, sagt er und keiner fragt den anderen nach den Namen. Irgendwie unwichtig.

Begegnungen die ich mag, denke ich, und fahre entspannt heim.

*

 

 

Zeitreisen

Jemand spricht und ich sehe mich vor 5,15, 20, 30, oder 40 Jahren. Ein kurzer Anflug der Gefühle dieser Zeiten überfällt mich, Bilder steigen auf und verschwinden wieder. Sie klebt nicht, diese Erinnerung. Sie ist intensiv, aber flüchtig. Immer wieder dominiert die Gegenwart, was ich sehr beruhigend finde. Irgendwann spreche ich, wie ich es gewohnt bin in diesem Kreis. Von mir, von den eben aufgestiegenen Bildern und Erinnerungen, was wiederum dazu führen kann, dass mancher denkt, was spricht der nun von mir… So tun sich Parallelen auf, die uns verbinden, uns in den Pausen in den Arm nehmen lassen, uns das Gefühl geben, ausgewachsene Glückskinder zu sein, allen Herausforderungen des Lebens zum Trotze.

Erfahrung, Kraft, und Hoffnung teilen.
Eines von vielen Meetings.

Wenn ich still bin, bei mir und nicht vom Tagesgeschäft gefesselt, dann bekomme ich eine Ahnung, wie es einst ausschauen könnte, mein Leben. Mit dieser meiner Vergangenheit und Gegenwart. Mit diesen immer wiederkehrenden Bildern und Gefühlen, die nicht mehr ihre Macht besitzen, aber unauslöschbar zu mir gehören. Spannend daran ist allein die Frage, was ich in meinen täglichen Fristverlängerungen noch alles loslassen, reduzieren oder umwandeln darf. Tun, was ich kann, egal wo. So gehe ich jagen und sammeln und so schaue ich meine Abgründe, um nicht hinein zu fallen und um Brücken zu bauen.

Wünsche hätte ich so einige, aber da das Leben dazu neigt, bei manchen Wünschen nur leise zu kichern, bleibe ich dort, wo ich bin und mache das beste aus dem Tag. Eines wird mir immer klarer: Die Zeit läuft und das tägliche Klein-Klein ist es immer weniger wert, mich zu empören. Was mich nicht daran hindert, es gelegentlich wieder zu versuchen … um mich gleich darauf wieder einmal selbst zu fragen, ob es das nun wirklich wert war. In grob geschätzt drei von vier Fällen war es das eher nicht, im Nachgang betrachtet.

In dem Zusammenhang ist es für meine dunkle, bergische Grübler-Seele eine große Herausforderung, mir das Lachen zu bewahren, ohne in bitteren Sarkasmus oder gar Zynismus abzugleiten. Die Versuchung ist riesig, beim Anblick mancher Menschen braucht es keine Karikaturisten, vielleicht einen guten Fotografen oder einen guten Zeichner. Hilfreich ist es dann, mich an das andere Ende zu stellen, um zu spüren, was manch leise ätzende Rede wohl so alles anrichtet. Sagt der kleine Mann im Ohr dann immer noch „Ja“, kann es losgehen – wohl bekommt`s, hüben wie drüben. In der Königsklasse dieser Kunst gelingt es mir, Grenzen und Contenance zu wahren sowie der Versuchung, in Arroganz zu fallen, die Stirn zu bieten.

Der rote Faden jetzt und hier, in diesen Zeilen? So genau weiß ich das auch nicht, vielleicht gibt es keinen. Muss es auch nicht immer.

*

 

 

Stachel im Fleisch – Epilog

Wie hast Du das geschafft? So werde ich manchmal gefragt. Wie bist Du trocken geblieben, nach so langer Zeit? Zu Beginn stand die Entscheidung für das Leben, für mein Leben. Die erste große Kapitulation, die vor meiner Unfähigkeit, mit Alkohol und anderen bewusstseinsverändernden Mitteln umzugehen. Es sollte nicht die letzte Kapitulation sein, aber ziemlich sicher die wichtigste.

Sehr viel Zeit war auf einmal frei geworden. Zeit, die ich bis dahin mit saufen verbracht hatte. Das war die erste große Überraschung, festzustellen, wie viel Zeit ich eigentlich hatte. Eine riesige, nervöse Leere, die irgendwie gefüllt werden wollte. Nächte lang lief der Fernseher durch, bis sich so etwas wie ein geregeltes Leben einstellte, vergingen Monate. Bei den anonymen Alkoholikern hatte ich gelernt, mein Leben in 24-Stunden-Abschnitte einzuteilen. Heute das erste Glas stehen zu lassen. Manchmal habe ich diese an sich überschaubare Zeit von einem Tag sogar noch verkürzt, bis hin zu jetzt nicht. Überhaupt hörte ich dort keine Tiefen-psychologischen Erklärungen für meine Zustände, sondern kurze, schlüssige Weisheiten, die ich sofort verinnerlichen und in mein Leben einbauen konnte. Hab`Geduld mit dir! So hörte ich, und die damit verbundenen Menschen klangen nicht nach Phrasendrescher vom Tresen. Sätze, die gerade in der ersten Zeit unglaublich hilfreich waren, wenn Unruhe, Leere und Nervosität mich umtrieben.

Veränderungen im äußeren Leben standen an. So verließ ich erst einmal die Stadt, eine neue Wohnung, weg von dem mir so vertrauten, klatschnassen Umfeld. Schon nach kurzer Zeit war mir ein Meeting die Woche zu wenig, zeitweise ging ich fast täglich Abends in irgend ein Meeting. Die neuen Freunde taten mir alles in allem sehr gut, mit ihren Erfahrungen und mit ihrer Nähe. Zudem hatte ich das unwahrscheinliche Glück, in meinem damaligen Stamm-Meeting einem ehemaligen Sauf-Kumpan zu begegnen, der den Weg in die Trockenheit schon viele Jahre vor mir geschafft hatte. Dieser Mensch war gerade in meinem ersten Jahr sehr um mich bemüht, wofür ich heute noch dankbar bin.

Viel Zeit habe ich am Anfang damit verbracht, mir mein bisheriges Leben anzuschauen. Erklärungen finden und mich selbst dabei manchmal einfach nur auszuhalten. Meine Scham über einiges, was ich gelebt hatte ebenso wie die Wut auf Menschen, von denen ich glaubte, das sie mir wesentliches vorenthalten hatten. Es sollte lange dauern, bis ich Frieden finden konnte, gerade auch mit meiner Familie. Ohne meine neuen Freunde hätte ich das wahrscheinlich nicht geschafft und wäre ziemlich sicher schnell in alte Muster zurückgefallen. Du schaffst es nicht allein, aber nur Du allein schaffst es. Auch so eine seltsame Weisheit, die mir zunächst ziemlich blöde in den Ohren hing. Es stimmt schon, das Leben leben kann jeder nur für sich, eigenverantwortlich,  aber dennoch in passender Gesellschaft, eben geistige Verwandtschaft, die sich jeder aussuchen kann. Damals wie heute ist das für mich wichtig. Zu Beginn waren es manchmal nur 5 oder 10 Minuten lange Telefon-Gespräche, die mich wieder beruhigten in manchen Zuständen von Unsicherheit, Angst und Unruhe. Mich selbst auszuhalten sollte ich erst mühsam lernen.

Langsam kamen neue Eindrücke, neue, Erfahrungen in mein Leben. Ein unwahrscheinlich starkes Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, verbunden mit einer großen Neugier auf alles mögliche, was es zu entdecken galt. Noch einmal trocken Orte der Vergangenheit aufsuchen, verbunden mit der Freiheit, gehen zu können, wann es mir beliebte. Eben ohne den Rausch mit einplanen zu müssen, nicht mehr Auto fahren zu können, nicht mehr Herr meines Geistes zu sein, mit allen damit verbundenen Zu- und Umständen. Vieles glich gerade in den ersten Jahren einem Ausschlussverfahren, Versuch und Irrtum, das, was mir gut tat, sollte bleiben. So eine Art interaktives Annähern an dem, was zu mir passen sollte, ein Prinzip, was sich in allen möglichen Aktivitäten ausdrückte wie Musik, Vorlesungen, Ausflüge, VHS-Seminare oder die Beschäftigung mit Religion, mit dem, was Spiritualität genannt wird. Selbst mein Verhältnis zum anderen Geschlecht sollte nach diesem Muster verlaufen, aber das ist eine Geschichte für sich.

Langsam lernte ich, Vertrauen zu fassen. Zu glauben an eine Sinn, der mich hatte überleben lassen. mich allmählich geborgen und getragen zu fühlen von einer Macht, größer als ich selbst. Von Gott, wie ich ihn verstehe, und das ist nicht die strafende Urgewalt früherer Zeiten, der jedem das seine zukommen lässt, sondern einer der mich liebt, so wie ich bin. Der mich lernen ließ, das Leben anzunehmen und bei aller zeitweisen Schwere das Lachen und die Freude am Leben wieder zu entdecken.

*

Jeder kennt einen oder kennt einen, der einen kennt, der zuviel trinkt. Manchmal handelt es sich dabei sogar um ein und die selbe Person 😉 All denen möchte ich an dieser Stelle Mut machen, Mut auf ein neues Leben ohne Bewusstseins-verändernden Mittel, auf ein Leben abseits der mit der Sucht verbundenen „Nebenkosten“. Mut, sich Hilfe zu holen in irgend einer Gemeinschaft, die Auswahl ist groß geworden hier. Anonyme Alkoholiker, der Kreuzbund, das blaue Kreuz, zahlreiche Freundeskreise Suchthilfe bieten umfangreiche Angebote.

 

Wiedersehen

Einige Jahre haben wir uns nicht gesehen, zuletzt mal gehört vor zwei Jahren. Seinen Geburtstag kenne ich, nicht weit von meinen eigenen entfernt. Diesen Sommer schrieb ich ihm eine SMS mit den üblichen guten Wünschen. Nach anfänglichen Unsicherheiten, „welcher Reiner bist Du denn, wir haben da mehrere…“  folgte eine Antwort und einige Wochen später ein Anruf. Recht lang haben wir gesprochen und auf meine Frage nach der Gesundheit folgte erst einmal nur ein „hör`bloß auf “ Das sie ihm letztes Jahr den kompletten Magen entfernt hätten. Ein langes Jahr Zwangspause mit dem ganzen Programm, Reha, Chemo und so weiter, aber jetzt ginge es wieder, bisken gemacher alles, aber es ginge. Dann eine Beratschlagung, beiderseitiges Kalender-wälzen und ein Termin wurde festgelegt, weil es nicht anders geht, so unverbindliches „wir sollten uns mal sehen“ verläuft sich doch im ungefähren.

Vieles ging mir in den letzten Tagen und Wochen durch den Kopf. Unsere gemeinsame Zeit, angefangen für uns als Lehrlinge mit zarten 16 Jahren. Sein Kellerzimmer im elterlichen Haus, jeden Freitag nicht nur mein zweites Wohnzimmer. Ein damals schon uralter Röhrenverstärker, Vatter`s Bier aus der Waschküche nebenan und das Wochenende ging los, jung, wie wir waren. Später trennten sich die Wege, unterschiedliche berufliche Ausrichtungen einerseits, auch privat verlief sein Leben anders als meines, seine Kinder sind heute schon erwachsen. Die Treffen wurden seltener, blieben aber regelmäßig. Was uns  äußerlich verband, war neben unseren gemeinsamen Beruf eine gnadenlose Gier auf Rock`N Roll und Neptun`sche Traumwelten, zwei Meister im Parallel-Universum. Echt waren wir beide dennoch, jeder auf seine Art, vielleicht war es das, was wir an einander auch später immer noch schätzten. Keiner hat je dem anderen irgend ein Schauspiel vorgemacht und laut lachen konnten wir zusammen, beide schräg unterwegs, wie wir waren.

Da tauchen in den letzten Tagen unzählige Bilder aus der Vergangenheit auf. Er, der geborene Entertainer, laut, schnell, auch schnell überall zuhause, kontaktfreudig wie er war. Dabei ein nervöses Hemd vor dem Herrn, groß gewachsen und rappeldürr sehe ich ihn vor mir, seinem Gegenüber stets mitten in die Augen schauend und wild gestikulierend mit Händen und Füßen zur Rede. Ein Vereinsmensch, stets ausgebucht, daneben noch Fußball-begeistert, voll der Wohnzimmer-Hooligan, eine Leidenschaft, die ich übrigens nie teilen konnte.

Vor fast 14 Jahren dann trennten sich unsere Wege scheinbar endgültig. Das Tor zu den Neptun`schen Traumwelten schloss sich für mich aufgrund meiner Vergesslichkeit (ich vergaß stets das aufhören…), er dagegen ging weiter wie gehabt, vielleicht eine Spur ruhiger, aber von einem hohen Niveau ausgehend. Was blieb, waren gelegentliche Telefonate oder Kurznachrichten.

Bis gestern Abend eben. Meine große Sorge war, das wir uns in den endlosen, gemeinsamen Episoden verlieren, eine Beschäftigung mit Unterhaltungswert, die sich allerdings schnell erschöpft. Daneben Neugier. Wie geht der wohl heute durch`s Leben, was mag er anfangen, mit seiner Fristverlängerung. Wie ist das eigentlich, ohne Magen zu leben, was für Auswirkungen hat das auf den Alltag. So Fragen halt.

Dann steht er hier in der Tür, mit seine Frau. Das gleiche, schiefe Jungen-Grinsen wie damals, ein wenig ernsthafter die Augen, noch schmaler im Gesicht. Lang und dünn war er immer, kein Platz für Bauchschmerzen hat der, so hieß es früher. Wie makaber klingt das heute. Wir sitzen zusammen und nach einer recht kurzen, gemeinsamen Unsicherheit hellt sich die Stimmung auf. Gestern ist schon präsent, aber beherrscht zu meiner großen Erleichterung nicht unser Treffen. Hier und jetzt sind wir alle miteinander beim folgenden, gemeinsamen Essen draußen um die Ecke. Er ist äußerlich ganz der Alte, nur gezwungener Weise langsamer beim essen und trinken. Lebensfreude spüre ich, energiegeladene Wärme. Gelächter fliegt hin und her über den Tisch, laut wie eh und je. Ansteckend ist er in seiner Lebendigkeit und die Stimmung ist gut, trotz oder gerade wegen mancher Schilderung der jüngsten, leidvollen Vergangenheit, die Gott sei Dank überstanden scheint. Sätze, die mir in den Ohren klingen. Lieber ein Jahr Überholspur als 10 Jahre Standstreifen, tönt er, seinen Nimbus pflegend. Ein Mensch wie Quecksilber, welches allenfalls das Tempo ein wenig gedrosselt hat. Dahinter schimmert leise das Wissen um die eigene Endlichkeit und um die gesetzten Grenzen, aber hausieren muss man ja damit nicht unbedingt gehen. Toll, denke ich. Er und auch ich, wir beide kennen Menschen, die an der bloßen Diagnose schon zerbrochen sind. Was ist, wenn ich...denke ich weiter und weiß doch, das ich das erst heraus bekomme, sollte ich irgendwann selbst einmal davon betroffen sein .

Ein schöner Abend war das, meinen Befürchtungen zum Trotze. Für uns alle vier, was mich zusätzlich sehr freut. So Gott will, sehen wir uns wieder, und ich glaube, er will…