Archiv für den Monat: Dezember 2021

Urvertrauen

Unten stehende Zeilen stellen im Kern einen meiner Beiträge in einer Heinz-Kappes-Whatsapp-Gruppe dar. Glaube und Vertrauen, für mich der Boden unter meinen Füßen, heute. Es ist immer noch nicht selbstverständlich für mich, abzugeben, als ein Mensch, der stets gern die Kontrolle gehabt hätte, zu haben glaubte. Ein Mensch, der mit solchen Plattitüden wie „Glauben tun wir in der Kirche“ aufwuchs, ein Mensch, für den Gott allenfalls eine Art strafende Instanz darstellte, der jedem das seine gibt, alttestamentarisch pur. Ein Mensch, der sich zum Ende seines Größenwahnes seinem Schöpfer angeboten hat, ihn abzuholen.

Es war noch nicht die Zeit dazu – Gott sei Dank.

Und das ist meine Lebensgeschichte, dass ich nicht wusste, wohin ich gehe, und dadurch am sichersten geführt war….Man weiß nicht, wohin man geht, wenn man gegangen wird in seinem Leben.

Heinz Kappes – „Von Liebe heimgesucht“ – Abschlussrede AA-Treffen in Basel am 09.05.1978)

Mein Name ist Reiner, ich bin Alkoholiker, heute trocken. Ich habe mir diese beiden Textpassagen aus der langen Rede von Heinz Kappes herausgesucht, weil sie mich besonders ansprechen: Der Umgang mit stetem Wandel, mit Unsicherheiten aller Art, wirtschaftlich und politisch auf gesellschaftlicher Ebene sowie Partnerschaften, Freundschaften, Beziehungen aller Art auf persönlicher Ebene betreffend.

Mein Leben war geprägt von persönlichen Krisen und Veränderungen. Zahlreiche partnerschaftliche Beziehungen, ständig wechselnde Bekanntschaften, deren Bindeglied die gemeinsame Gier auf Rausch war. Die totale, innere Leere in der Kapitulation vor meinem Unvermögen, mit Alkohol und Drogen umgehen zu können. Beziehungsdramen, nüchtern und trocken durchlebt und regelrecht zelebriert. Die zweite große Kapitulation war die vor meinem seelischen Zuschnitt, das andere Geschlecht betreffend, nach 9 trockenen Jahren durchlebt. Ich war mit meinem Willen, mit meinem Ego mehr als einmal komplett am Ende. Und immer, wenn ich überhaupt nicht mehr weiter wusste, konnte ich abgeben, an meine höhere Macht. Natürlich nicht frei und willig, sondern getrieben von Verzweiflung und Angst, die mein ständiger Begleiter war, solange ich denken kann. Mach du, ich weiß nicht mehr weiter, hieß es so oft.

Das kommt auch heute noch öfters vor, aber etwas hat sich geändert. Ich darf zeitig um Führung bitten, nicht erst im Zustand vollständiger Verzweiflung. Mein Ego, mein Verstand machen Pläne, entwerfen Strategien, haben aber nicht mehr das letzte Wort. Eingeprägt hat sich mir der Wunsch, das meine zu tun, soweit ich blicken kann, verbunden mit der Erkenntnis, dass das jeweilige Ergebnis nicht in meiner Macht liegt. IHM das Ergebnis zu überlassen und es annehmen zu können, gleich, wie es ausfällt. Manche nennen es Gottvertrauen, andere Intuition oder Urvertrauen, für mich ist es auch heute noch alles andere als selbstverständlich, abgeben zu dürfen, zu vertrauen, mich führen zu lassen. Es ist dies das größte Geschenk meiner Nüchternheit, mein Ego SEINEM Willen unterordnen zu können.

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Grundbedürfnisse & Mangel

Eigentlich – beschreibt, wie etwas sein sollte, aber nicht ist. Eigentlich ist es für die meisten Menschen selbstverständlich, auf sich zu achten, auf die psychische und physische Befindlichkeit. Für mich als suchtkranker Mensch ist es dies nicht. Wenn ich den Motor meiner Suchterkrankung beschreiben soll, fallen mir spontan zwei Begriffe ein: Flucht und Mangel. Flucht vor mir selbst, mich mir selbst nicht stellen wollen sowie Mangel an (Selbst-) Liebe, Eigenverantwortung, Fürsorge für mich selbst. Was keinen Widerspruch zu meinem maßlosen süchtigen Verhalten darstellt: Ein Fass ohne Boden wird niemals gefüllt.

Den inneren Mangel zu befrieden, meine Seele zu füllen mit Frieden, Vertrauen und Zuversicht, das ist ein Prozess, der lebenslang andauert. Heute glaube ich den Worten der AA-Freunde – die Dauer sei mindestens ebenso lang wie die aktive, süchtige Zeit. Sie wussten um elementare Zusammenhänge zwischen Körper und Seele, gut in Erinnerung geblieben ist mir dieser Halbsatz:

Nicht hungrig, nicht durstig, nicht müde.

Äußerer Mangel – in meiner aktiven Zeit achtete ich in keiner Weise auf mich. Ich aß zu wenig und meist wenig Nahrhaftes, trank – schon klar, was, und schlief zu wenig und zu schlecht. Hygiene und äußeren Erscheinung waren oft dem entsprechend. Trocken und clean fing ich genau hier an, auf mich zu achten. Neben geistiger Nahrung, in meinem Fall alle verfügbare AA-Literatur, aber auch weit darüber hinaus, fing ich an, auf meine Grundbedürfnisse zu achten. Lernte kochen, lernte Neugier zu leben, lernte, wieder Struktur in meine Tage zu bekommen. Für mich zu sorgen eben, was soziale Kontakte mit einschließt. Einsamkeit (nicht allein-sein) ist auch ein Mangel, den ich, wenn ich wirklich möchte, relativ leicht beheben kann.

Warum bewegt mich all das, sollte doch schon längst selbstverständlich sein, meint der innere Kritiker. Ist es aber nicht immer. Mal fällt es mir einfach nicht auf, wie müde ich wirklich bin, mache einfach weiter und wundere mich dann über meine Gereiztheit und meine Aggressionen. Dann kann ich mich wunderbar empören, Anlässe gibt es in dieser Zeit mehr als reichlich. Oder ich werde schlicht krank am Körper, siehe neulich. Mangel hat viele Gesichter. Bei der fälligen Innenschau, der nach Möglichkeit täglichen Inventur sowie im Austausch mit anderen Betroffenen werde ich wieder an die kurzen, knappen vermeintlichen Binsenweisheiten erinnert, siehe oben.

Eigentlich ist es so einfach – eigentlich eben.

Bild von Markus Grolik aus dem Buch „Therapeutische Cartoons“ (Holzbaum Verlag): www.komischekuenste.com/shop/therapeutische-cartoons
(Werbung, unbezahlt)

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Nachtgedanken

3.30 Uhr. Draußen ist Schneeregen, die Scheiben unserer Uralt-Fenster sind beschlagen. Wenn ich gesund bin, ist dies die Zeit, aufzustehen, mich auf dem Tag vorzubereiten. Jetzt ist das anders, die nötige Medikation zerhackt auch die Nacht in 5-Stunden-Abschnitte. Soll heißen, ich bin wach. Also beinahe, so ein Zustand, der mich gerade eben diesen Eintrag schreiben lässt.

Steht hier jemand auf, ist sie mit dabei. Immer gut, wenn was los ist, denkt sie, mit ihren jugendlichen knapp drei Jahren. Wenn sie „denkt“, selbst glaube ich, dass unter ihren sehr süßen Ohren meist eher bunte Bänder, flauschige Bälle und jede Menge anderer Unfug anzutreffen ist. Wenn ich wieder liege, in der Hoffnung, doch noch ein wenig schlafen zu können, dann kommt sie zu mir, in bekannter Manier, um sich ihrer Nische zu versichern, zwischen meiner Brust und der Sofalehne.

Milchtritte, uralter Reflex – es gibt keine Milch, aber Berührung und Liebe, die nähren auch. Und so ist der Geruch meiner Bettwäsche für dieses berechenbar unberechenbare Geschöpf zeitlebens mit einer Portion Liebe verbunden. Was keine Einbahnstraße ist, wer je mit einer sonor schnurrenden Katze eingedöst ist, weiß, wie ich das meine. Das dauert solange, wie es dauert, meist nicht sehr lang. Irgend ein Geräusch, ein Knacken der alten Wände oder das Schurren von Schritten in der Nacht da draußen sorgen für ein abruptes Ende der Session.

Selbst bleibe ich noch ein Weilchen liegen, könnte ja sein, dass ich noch einmal abdrifte in den seltsamen Traum von gerade eben. Das funktioniert nicht, siehe oben, anstelle dessen nehme ich das Phon und schaue nach dem Leben der anderen, finde Spiegel und lese erst einmal nicht zu Ende. Besser aufstehen und schreiben, so unsortierte Dinge wie nun, in dieser Zwischenwelt, noch nicht wach und nicht mehr müde.

Oben auf dem Bücherstapel neben meinem Bett liegt von Stig Dagerman: Deutscher Herbst, ein längst vergessener Reisebericht von einem längst vergessenen jungen schwedischen Autor, der kürzlich wiederentdeckt und frisch ins Deutsche übersetzt wurde. 1946 in Deutschland.

Beistand und Zusammenhalt waren ihnen immer wichtig, den Kindern der Not. Sie waren 11 und 12 Jahre jung, 1946, zählten per Dagermans Definition damals mindestens zu den sehr Armen, die sich zu neunt ein winziges Zimmer teilen mussten. Es ging noch tiefer, in die überfluteten, eiskalten Keller der Ruinen, wo die ärmsten der Armen hausen mussten.

Beistand und Zusammenhalt also, so große Tugenden im gemeinsamen Leid. Und was noch? Das konnten sie mir nicht verraten, weil sie es selbst nicht so genau wussten. Vereint in der Not zu sein ist nicht gleichbedeutend mit einem erfüllten Leben, was immer das für den Einzelnen bedeuten mag. Milchtritte sind möglicherweise eines der zahllosen Werkzeuge auf dem Weg dahin, das Geheimnis eines erfüllten Lebens zu ergründen. Zumindest für Katzen.

Allein bin ich mit dieser Problematik offensichtlich nicht. In den (für mich) unseligen 90ern gab es mal ein Liedchen, das solch ein defizitäres Lebensgefühl gut beschrieb, in treibenden Sound gepackt zelebrierten das Tausende auf großen Festivals. Klingt immer noch gut, selbst zu dieser Unzeit.

Lyrics

Vielleicht besser doch noch eine Stunde Schlaf?

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Dezember 2021

Ein riesiger Topf mit Hühnersuppe kocht langsam vor sich hin, auf dem Tisch liegt seit heute Mittag ein ordentlicher Stapel ungelesener Bücher. Kurzweil ist wichtig, wenn schon mit Aua zuhause. Nicht nur am Schirm, auch ganz klassisch auf Papier. Fehlt es an äußeren Ereignissen, so wie derzeit in meinem Leben, richtet sich der Blick nach innen. Die ewig langen Nächte tun ihr übriges, düster hier, ich zünde mal ne Kerze an.

Schon besser.

Ich kann nicht sagen, dass mir langweilig ist. Eher ist es so, dass ich auch solchen Zeiten etwas Gutes abgewinnen kann. Was mich bewegt, bewegt viele Menschen in meinem Alter. Das nahende Ende der Erwerbstätigkeit, die letzten Meter im Leben der Eltern. Partnerschaft, Familie, die letzten Reste alter Freundschaften. Schlechte Kunde tropft zäh wie Pech in einer fast schon kalkulierbaren Regelmäßigkeit in mein Leben. Es ist die Qualität der Zeit, meiner Zeit, meiner Gegenwart. Krankheit, Tod, und nicht immer sind es die (ganz) Alten, die es trifft. Nichts besonderes eigentlich, so geht es allen Menschen, früher oder später. Besonders für mich ist die teils brutale Klarheit, mit der ich all dies wahrnehme. Es gibt kein so vertrautes Ausweichen, keine Fluchtmöglichkeit.

Auch die mir so vertrauten Neigungen der allgemein aus dem Märchen bekannten Grinsekatze, deren Charakter auch ein Teil meines Wesens ist, helfen bei alledem nicht weiter. Das Ungefähre, Verschlüsselte, Wortverspielte, irrlichternd Beliebige in mir ist das der Grinsekatze vertraute Terrain. Das, was vor mir liegt, ist außerhalb dieses Revieres. Dort wird die Luft dünner und die Gesellschaft spärlich. Tiger-Revier passt besser, analog zu meinem Geburtsjahr. Zwei Katzen-Wesen, die erst einmal nicht viel miteinander zu tun haben, aber doch zusammengehören, für mich. Auf dass die Grinsekatze ein wenig verbindlicher wird und der Tiger das Leben ein wenig leichter nehmen kann. Beide sind, so Gott will, lernfähig, jeder aus seine/ihre Weise. Und mit den Jahren sogar gute Freunde geworden.

Gott ist besser als nichts, so schrieb mir eine Freundin gerade eben in einem Kommentar, nebenan, bei wordpress.com, der virtuellen Heimstatt der Grinsekatze. Stimmt, der ist immer da, selbst, wenn ich ihm den Rücken zudrehe. Und ein wenig grinsen muss ich auch, wenn mich Menschen daran erinnern, die sonst von weitem betrachtet eher als mögliche Agnostiker durchgehen würden.

Niemand ist eine Insel, auch, wenn es sich zeitweise so anfühlt.

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