Archiv für den Monat: Mai 2020

Wie geht es weiter mit der Selbsthilfe?

Wie geht es weiter mit der Gemeinschaft der anonymen Alkoholiker, denen ich mich seit über 20 Jahren trocken und dankbar verbunden fühle? Mittlerweile sind unsere Zusammenkünfte wieder gestattet, mit einer Menge Auflagen des Gesundheitsamtes NRW, die Selbsthilfe allgemein betreffend,  die unsere Prinzipien und Traditionen teils komplett auf den Kopf stellen. Die Gemeinschaft der anonymen Alkoholiker (in der RG01) selbst hat dazu ebenfalls ein Schreiben verfasst, welches sich auf die Vorgaben des Landes bezieht. Darin ist unter anderen die Rede von den auch anderswo üblichen Schutzmaßnahmen vor Ansteckung wie Mindestabstand und der daraus resultierenden Teilnehmerzahl-Begrenzung, Maskenpflicht, Aufhebung der Anonymität durch Teilnehmerlisten mit Vorname und Telefonnummer, Bewirtungsverbot, permanente Belüftung, abschließende Desinfektion und so weiter.

Zunächst einmal ist es mehr als fraglich, ob die Gemeinde, welche uns die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hat, überhaupt unter diesen Vorgaben weiter bereit dazu ist. Meine persönliche Haltung ist eher skeptisch ob der Durchführbarkeit des Ganzen. Für mich als einer der Sprecher unserer Gruppe hat das alles auch etwas mit Verantwortung zu tun, die ich nicht übernehmen will und kann. Eine Menge Fragen tauchen auf, zum Beispiel die Teilnehmerzahlbegrenzung betreffend. AA war und ist für mich offen für jeden, der den Wunsch hat, mit dem Trinken aufzuhören und ich werde niemals einem die Tür weisen oder Diskussionen führen wollen, wer anstelle dem Neuen jetzt den Raum verlässt. Auch das Hinterlassen persönlicher Daten, was der Anonymität komplett zuwider läuft,  lehne ich ab (Aus diesem Grund weigere ich mich auch, Gaststätten zu besuchen).

Denke deine Gedanken zu Ende – das waren einst die Worte eines alten, mittlerweile schon lange verstorbenen Freundes meiner ersten trockenen Wochen. Wenn ich das konsequent mache (ok, meine Phantasie ist lebhaft), kann ich mir z.B. folgendes Szenario vorstellen. Einer aus der Gruppe erkrankt, angesteckt wo und wie auch immer. Im Zuge der Nachverfolgung von Infektionsketten taucht meine Telefonnummer und somit meine kompletten persönlichen Daten beim örtlichen Gesundheitsamt auf. Da geht es laut den Schreiben auch um Haftung, um Bußgelder bei eventueller Nichteinhaltung der Vorgaben. In allen derzeit kursierenden offiziellen Schreiben ist diesbezüglich von „Kontrollen“, von Bußgeldern sowohl für den Vermieter (oft, wie auch bei uns die Gemeinde) als auch den Mieter der Räumlichkeiten, also die Gemeinschaft der AA die Rede. Diese „funktioniert“ anarchisch, alle Fragen innerhalb einer Gruppe werden per Abstimmung entschieden, das Gesundheitsamt dagegen braucht einen Verantwortlichen – was liegt näher als der Gruppensprecher. Und – es könnte Quarantäne folgen, am Ende Besuchsverbot bei meinen greisen Eltern, bis hin zu Schließung von unseren Arbeitsstätten im Infektionsfall. Natürlich kann ein solches Szenario auch anderweitig eintreten, anstecken kann man sich immer, sobald man das Haus verlässt. Dennoch – zumindest derzeit bin ich nicht bereit, unter diesen gegebenen Bedingungen bei einem persönlichen Meeting mitzumachen, so bitter mir das auch ankommt.

Da ich nicht damit rechne, dass sich die Voraussetzungen kurz- oder mittelfristig ändern werden, muss ich davon ausgehen, dass auf Monate (meiner Einschätzung nach bis weit in das nächste Jahr hinein) mehrere Jahre kein reguläres Meeting unter (für mich) annehmbaren Bedingungen mehr möglich sein wird. Es bleiben nur die virtuellen Meetings und die (private) Begegnung mit den Freunden, persönlich oder über die gängigen Kommunikationskanäle. Headset und Webcam sind jedenfalls geordert  mittlerweile vorhanden… mir tut es nur für all jene leid, die in der Gegenwart noch keinen Weg in die Trockenheit gefunden haben und unter diesen harten Bedingungen Wege finden müssen.

Update – 24 Juli 2020

Nach einem mir vorliegenden Schreiben gibt es neue Regeln für „offizielle“ Präsenz-Meetings (NRW): Teilnahme nur nach Anmeldung (?). Bekanntgabe des vollständigen Namens und der Adresse. In der Praxis reicht dem Vernehmen nach vielerorts (noch) die Angabe des Vornamens sowie einer Telefonnummer. Die neuen Vorgaben dienen vermutlich dazu, den Gesundheitsämtern die verwaltungstechnisch umständliche „Entschlüsselung“ der Metadaten jedes Teilnehmers über die Mobilnummer zu ersparen. Wer unter diesen Bedingungen ein Präsenz-Meeting aufsucht, muss wissen was er tut. Mich bestärkt das in meiner Entscheidung, den offiziellen Präsenz-Meetings bis auf weiteres fernzubleiben.

Update – 17.Oktober 2020

Mit der Zeit komme ich zu einigen für mich sehr interessanten Erkenntnissen:

  • Es geht mir auch ohne Gruppe gut, meinem Glauben sei Dank. Die üblichen Schwankungen, denen alle Menschen ausgesetzt sind, inbegriffen. Teilen und weitergeben ist mir immer noch wichtig, aber weniger aus einem persönlichen Bedürfnis, aus eigener Not heraus, mehr mit der Hoffnung verbunden, anderen Mut zu machen, ihren Weg weiter zu gehen.
  • Ich bin und bleibe ein süchtiger Mensch, der nur durch Gottes Gnade im Leben so etwas wie Halt gefunden hat.
  • Es fühlt sich so an, als ob nun das Gelernte der letzten 20 Jahre auf seine Ernsthaftigkeit, seine Tragfähigkeit hin geprüft wird.
  • Konspirative Freundschaftstreffen (inoffizielle Meetings) in ominösen Hinterhöfen, ohne Bekanntgabe meiner persönlichen Daten, haben auch ihren gelegentlichen Reiz. Natürlich immer unter Einhaltung der Schutzmaßnahmen wie Abstand und Maske. Und – was in den oft sehr vertrauensvollen Runden echt schwer fällt – niemanden drücken oder herzen. Auch interessant – früher konnte ich das nicht, heute fehlt es mir.
  • AA ist in erster Linie eine Zweckgemeinschaft, wer sich abwendet, existiert für die meisten anderen nicht mehr wirklich. Oder aber mein persönlicher Zuschnitt, meine gelegentliche Impulsivität, Arroganz, Distanz, verhinderte tiefere Bindungen über die Jahre. Wahrscheinlich ein Mix aus beiden.
  • Die gewonnene „freie“ Zeit kommt mir sehr gelegen, mit Blick auf familiäre Verpflichtungen.

Update – 30. Juli 2021

Nach wie vor fühle ich mich derzeit keiner Gruppe zugehörig, suche auch nicht den regelmäßigen Kontakt zu Live-Meetings, obgleich mittlerweile vollständig geimpft. Dennoch bin ich getragen von meinem Glauben und von der Arbeit in den 12 Schritten. Der Rückzug führt zu mehr Ernsthaftigkeit, meine tägliche Inventur betreffend. Auch in Schriftform findet Austausch mit anderen Betroffenen statt, privat oder in geschlossenen Gruppen.

Und – seit Beginn der Pandemie bin ich sehr viel zu Fuß unterwegs. Erkunde hier im nächsten Umfeld Ecken und Lagen, die mit Auto oder Rad nicht zu erreichen sind. Gehen hat etwas meditatives, meine Runden reichen nicht selten an die 10, 12 Km heran. Dabei spüre ich mit jedem Schritt, wie mein Geist ruhiger wird, sich zunehmend leert. Fühlt sich sehr gut an.

Update – 9. Januar 2022

Im neuen Jahr werde ich der Gemeinschaft der AA wieder etwas näher kommen. So habe ich mich entschieden, an dem wieder aufgenommenen Literatur-Meeting meiner damaligen Stammgruppe gestalterisch und persönlich teilzunehmen, jeden ersten Samstag im Monat. Das passt auch zeitlich, ich freue mich drauf. Futter für die Seele, gemeinsam zu gelesen und anschließend darüber teilen.

Update – 5. Februar 2022

Heute ist Neustart unseres „spirituellen“ Meetings, ein Themen-gebundenes Literatur-Meeting. Themen Heute sind analog zum zweiten Monat des Jahres die Ausführungen von Pfarrer Heinz Kappes zum zweiten Schritt der AA: Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. Wir lesen ca. 20 Minuten und teilen dann gemeinsam.

Update – 15 Januar 2023

Das Literatur-Meeting ist Geschichte, mangels Interesse. Dem Vernehmen nach gibt es eine Alternative, in der hiesigen Mittwochsgruppe (kommt aus Zeitgründen für mich leider nicht in Frage) Die AA-Literatur scheint aus der Zeit gefallen zu sein, dann ist das jetzt so. Persönlich hat mir die Arbeit mit den Reden von Heinz Kappes unglaublich viel gegeben und viele seiner Aussagen tragen mich bis heute.

Solange ich denken kann, verstand ich nie die Kleinteiligkeit und Widersprüchlichkeit des Glaubens unter uns Menschen und fand jeden Ansatz einer, wenn man so möchte, einfachen Universal-Religion höchst spannend. Heinz Kappes gilt als literarischer Vater der AA-Literatur hier in Deutschland, war er doch nicht nur evangelischer Jugendpfarrer (bis 1933), sondern nach 1945 auch ein überaus fleißiger Übersetzer der amerikanischen A-Gruppen-Literatur. Was er nie groß zum Thema gemacht hat, was ihm auch einige Diskussionen innerhalb der evangelischen „Amtskirche“ eingebracht haben dürfte – er stand auch den so genannten „Quäkern“ nahe, die, obgleich im Schwerpunkt christlich, sich spirituell aus allen Töpfen bedienen. Was sich auch in dem Leben von Heinz Kappes widerspiegelte, der als deutscher Emigrant 14 Jahre in Israel lebte, damals noch unter britischen Protektorat. Der Heinz Kappes, der als Christ Meditation und Yoga praktizierte, viele ferne Länder bereiste.

Halte es einfach, heißt es. Die alten Schriften sagen nicht anderes und ich bin dankbar, so vieles davon für mich persönlich verwenden zu können.

~