Archiv für den Monat: Mai 2023

Blick zurück

Wenn sich die Gegenwart zum größten Teil auf die eigenen vier Wände beschränkt und die Zukunft sehr überschaubar ist, rückt die Vergangenheit in die Gegenwart, möchte Erlösung, will in Worte gekleidet werden.

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Manchmal telefonieren sie. Das geht nur zu merkwürdigen Zeiten, weil sie der vollständige Erddurchmesser trennt. So geht bei ihr morgens um 7 das Telefon, am anderen Ende ist es 7 Uhr am Abend. Aber sie reden schon beinahe regelmäßig miteinander, wohl wissend, dass sie sich niemals mehr wiedersehen werden. Es gibt immer einiges zu erzählen und niemand nimmt Anstoß an Tageszeit und Dauer des Telefonats, das sich schonmal über Stunden ziehen kann. Ihre beiden Männer sind verstorben. Die beiden sind nicht nur Cousinen, sie waren auch Freundinnen, damals. Im „dritten Reich“, als Kinder. Die Frau am anderen Ende der Welt ist Jahrgang 1934, die andere ein Jahr jünger.

Das Tal der Wupper lag bereits in Trümmern, die beiden nahmen gezwungenermaßen an der so genannten Kinderlandverschickung teil. Im selben Schlafsaal untergebracht, durften sie nicht miteinander reden. Auch durften sie des Nachts nicht zur Latrine, was zu heimlicher Erleichterung in irgendwelchen Ecken führte. Beide wurden nacheinander krank und fanden sich auf der Krankenstation wieder. Hier durften sie immerhin miteinander sprechen.

Sie reden von der Flucht vor den Russen, zurück in den Westen. Von dem eiskalten Winter auf Pferdewagen. Die eine verlor sämtliche Zehen an beiden Füßen auf dem Weg, die andere hatte Glück, man konnte ihr das Leben unter großen Schmerzen wieder in die Zehen zurück massieren. Bilder werden getauscht, von dieser Fahrt durch die Hölle. Am schlimmsten seien die Toten gewesen, die sie einfach während der Fahrt vom Wagen warfen. Es gab keine Zeit, sie in dem hartgefrorenen Boden zu bestatten. So viele Babys seien dabei gewesen, kleine steifgefrorene Bündel. Tränen fließen, fast 80 Jahre alte Tränen.

Die beiden tun sich gut, während sie sich ihre Lebensgeschichten erzählen und den Horror aufzuarbeiten versuchen.

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Manchmal reden wir von den Nachrichten. Sie wundert sich manchmal über die Berichte, wobei ich nicht weiß, ob „wundern“ das rechte Wort ist. Ein Angriff, sagt sie und es ist von 5, 10 oder 20 Toten die Rede. Sie spricht direkt im Anschluss daran von dem großen Finale hier in der Stadt. Von der Nacht, in der es Feuer vom Himmel regnete, das sie aus dem Kellerloch beobachten konnte. Wie Regentropfen, sagt sie. Von dem Morgen danach, als sie zum spielen raus ging, in den Park, weil es Drinnen nicht mehr gab. Der Park, in dem die Toten der Nacht lagen, sehr viele Tote, ordentlich aufgereiht nebeneinander. Ist jeder einer zu viel, sage ich, und sie nickt stumm.

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Zum Schluss spare ich mir jeden weiteren persönlichen oder auch politischen Kommentar, obgleich mein Herz vom schreiben gerade übervoll ist. Um mich soll es hier an dieser Stelle nicht gehen.