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Zurückgeblieben

Folgender Beitrag war ursprünglich ein Post von mir im Rahmen einer Selbsthilfegruppe, aber warum sollte er nicht für alle Interessierten lesbar sein.

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Es bleibt etwas zurück, heißt es, nach jahrelangem Schindluder und Raubbau an Körper, Emotio, Ratio, Ego, an der Seele. Hat man mir auch einst attestiert, F10.2 & F12.2, man (oder die Suchmaschinen) kennt, kennen das. Bleibt halt nix ohne Folgen, weg ist weg und irgendwann wächst auch nichts mehr nach, sagen sie. Finden Sie sich damit ab, sagte mir vor längerer Zeit ein Therapeut auf einer dieser Probestunden, deren einziger Sinn für mich in der Erkenntnis bestand, austherapiert zu sein. Sie haben sich viele Jahre lang vergiftet, Nervenzellen zerstört, da bleibt etwas zurück.

Jo, recht hatte der. Wobei seine Sicht der Dinge wieder mal nur eine Teilwahrheit war, und in Art wie Kontext therapeutisch fragwürdig vorgetragen wurde, vorsichtig formuliert. Zu gerne hätte ich ihn gefragt – na klar, isso, aber was bitte stelle ich mit dem Rest noch an? Noch zu irgendetwas nütze oder reicht es einst nur noch für sanftes, rhythmisches Schwingen im Schaukelstuhl auf der Loggia, im Abgasnebel der Rushhour auf Monte Petrol? Die Frage sollte ich mir offensichtlich selbst beantworten.

Zunächst glaube ich daran, dass nicht nur etwas zurückgeblieben ist, sondern dass meine damalige Art zu leben auch eine Vor-Geschichte hatte, die erst nach meiner bedingungslosen Kapitulation eine Chance auf Sichtung und Bearbeitung hatte. Eine durchaus strittige Sicht, manch einer meint, erst durch den Konsum so oder so geworden zu sein. Henne und Ei, einerlei, Fakt ist, vom Konsum wird nichts besser, sei es schon vorher in mir angelegt gewesen oder mit der Zeit erst entstanden sein.

Was also fange ich mit dem „Rest“ an, und wie gehe ich mit solch charmanten Diagnosen und Prognosen um? Heute weiß man, dass sich Nervenbahnen neu bilden können, auch dass sich Hirnareale neu untereinander vernetzen können und so Regionen Aufgaben übernehmen können, die ursprünglich nicht ihre waren. Die neurologische Beweisführung spare ich mir jetzt mal, sie ist mir nicht wichtig. Hoffnung gibt es also immer, auch wenn Mensch wie ich zu depressiven Episoden oder gar zu handfesten Depressionen neigt, die in einer anderen Liga spielen.

Selbst der schwarze Vogel, wie ich meine dunklen Stimmungen gerne nenne, hat seinen Sinn, verschafft er mir wenn auch unfreiwillig manche Atempause, lässt mich langsamer werden. Er reduziert Bewegung, Worte und Taten, was durchaus zeitweise Sinn macht. Wobei ich mich in den letzten Jahren darin übe, dies eher über Meditation zu erreichen und mich ansonsten von wacher Routine und Gottvertrauen durch meine Tage tragen lasse. Mich und vieles um mich herum nicht ernster zu nehmen, als unbedingt nötig, das Leben ist zu kurz für zu viel Ernsthaftigkeit, soviel ist sicher, und Humor ist oft genug, wenn man trotzdem lacht.

Spiegelbild

Manche Menschen vergisst man nicht, auch wenn man sie nur einmal gesehen und kaum mit ihnen gesprochen hat.

2001

Der Raum wirkt düster, trotz der großen Fenster, vor denen ein paar abgerockte Topfpflanzen stehen. Ablagerungen von Tabakrauch verhindern helles Tageslicht und trotz der offenen Tür stinkt es nach preiswertem Kraut zum selbst-drehen. Einige wenige der üblichen Verdächtigen nehmen Platz, die Mienen sind meist verschlossen. Sie wollen nicht hierher, müssen aber, sonst droht Abbruch der Maßnahme (das ist heute anders). Niemand spricht ein Wort, man wartet.

Mir ist flau, wie meist, bei solchen Gelegenheiten, obwohl ich nicht allein bin. Zu zweit sitzen wir hier, um den Menschen von der anderen Seite der Tische die Vorzüge eines trockenen und vielleicht auch nüchternen Daseins näher zu bringen. In der Begeisterung meiner Anfangszeit damals war ich mir sicher, auf diese Weise die Welt, wenn schon nicht retten, so vielleicht doch für den einen oder anderen zu einem besseren Ort machen zu können. Diese so genannten Informations-Meetings waren meist Monologe unsererseits, obgleich das Wort frei war für alle. Nie sah ich jemanden in einem regulären Meeting wieder. Später, viel später traf ich Menschen, die einst auch „auf der anderen Seite“ der Tische gesessen haben, sich das vermeintliche Geseier wortlos anhörten und sich Jahre später an das Gehörte erinnerten und für sich endlich Wege finden konnten. Worte können manchmal Samenkörner sein, die lange im Staub überleben, bevor sie keimen dürfen.

Ob das für ihn auch gelten konnte, weiß ich nicht, auch ihn sah ich nie wieder. Ich sehe ihn noch da sitzen, als einer der ersten, die kommen. Ein Mensch von meiner Statur, aber locker 20 Jahre älter als ich. Pünktlich sein, nur nicht auffallen. Unruhige Hände mit derben Nikotin-Spuren an den Fingern, ein eisgrauer Bart mit ebensolchen Farbflecken rahmt sein nervöses Gesicht. Auch er spricht nicht viel, stellt sich wie alle anderen zu Beginn kurz vor. Seine Anzahl der Entgiftungen liegt im zweistelligen Bereich, sagt er. Kein schlichter Mensch, seine Worte sind gewählt, er spricht langsam, während sein Blick rastlos und unstet von hier nach dort suchend gleitet. Angst spricht aus seinem Habitus, wie ein waidwundes Tier, am Ende seiner Flucht angelangt. Ein Mensch, der vor seinen losen Nervenenden kapituliert hat, aber eben nicht vor dem, was dieses Desaster mit angerichtet hat. Er ist wie ich, fährt es mir durch den Kopf. Er zeigt mir, wer ich sein kann, so ich denn überhaupt so alt werde wie er nun ist. Er ist mein dunkler Spiegel.

Ich weiß nicht, ob er noch lebt, wahrscheinlich nicht, da ich heute so alt bin wie er damals. Sein Gesicht jedenfalls lebt in mir weiter, zu sehr erinnerte er mich an den, der ich hätte werden können.

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In eigener Sache

Ursprünglich ein Kommentar anderswo.

Ich heiße Reiner, bin ein trockener Alkoholiker und ein süchtiger Mensch. In meiner aktiven Zeit waren Alkohol und Cannabis die Mittel der Wahl. Gerne in Kombination, erst kiffen, dann trinken. Die Reihenfolge musste stimmen, sonst ging das übel(er) aus. Gelegentliche Erfahrungen mit Speed/Koks gab es auch, das stand dann an erster Stelle, gefolgt von den genannten Downern.

Wenn ich von mir als einen süchtigen Menschen schreibe, beziehe ich dabei alle nichtstofflichen Süchte mit ein. Dazu zähle ich alles, was irgendwann pathologischen und destruktiven Charakter bekommt. Arbeits- Sex- Fresssucht, aber auch Geltungssucht sind Bestandteile dessen. Große Teile davon sind gelöst oder wenigstens reduziert, dafür bin ich dankbar. Hinter alledem konsumieren und süchtigem Verhalten stand bei mir ein innerlich zutiefst verunsicherter Mensch mit nur geringem Selbstvertrauen und einem nicht vorhandenem Geborgenheitsgefühl, Verlorenheit beschreibt es am besten. So, wie ich war, wollte ich micht nicht. Definieren konnte ich mich über beruflichem Erfolg und über meine vermeintliche Wortgewaltigkeit, gerade wenn ich breit war. Sucht ist für mich ein Sammelbegriff für alle möglichen (pathologischen) Verhaltensweisen, die vom Selbst ablenken sollen, vermeintlich Flucht, Fülle, Anerkennung und Selbstbestätigung bieten, was am Ende nur Selbstbetrug ist.

Was mir in meiner ersten trockenen Zeit, nachdem die allererste Euphorie verflogen war, am meisten zu schaffen machte, war ein Zustand von großer innerer Leere. Mit meiner ersten, „trockenen“ Liebesbeziehung, der es aufgrund ihrer psychischen Erkrankung ähnlich ging, war ich unglaublich viel unterwegs, jeder spirituelle Vortrag, jedes Seminar wurde mitgenommen, kaum ein potentieller Heilsbringer wurde ausgelassen. Rückblickend ein sehr spannende und aufregende Zeit, die sich über mehrere Jahre erstreckte, aber letztendlich aufgrund der Vielfalt auch sehr verwirrend und ohne die für mich nötige Erdhaftung.

Geblieben ist mir ein einfacher Glaube an meine namenlose höhere Macht, die, obgleich ich einer religiösen Gemeinschaft angehöre, nicht direkt mit einer solchen verbunden ist. Es brauchte zahllose Erfahrungen, um zu einem heute meist tragenden Geborgenheitsgefühl zu finden. Dankbarkeit auch für die kleinen Dinge am Tag lässt für mich heute keinen Raum für Mangel, gleich welcher Art. So ich mich rechtzeitig daran erinnere 🙂

Pari

Gleichstand. Heute vor 22 Jahren trank ich zum letzten Mal Alkohol. Das entspricht annähernd der Zeitspanne, in der ich konsumiert habe, wenn ich den Beginn auf dem 16ten Lebensjahr lege, von einigen vorherigen einzelnen Gelagen mal abgesehen.

Wir unterscheiden bei den anonymen Alkoholikern zwischen Trinkpausen, Trockenheit und Nüchternheit. Trinkpause ist selbsterklärend, Trockenheit bezeichnet dauerhafte Abstinenz, Nüchternheit meint Trockenheit plus tiefgreifenden inneren Wandel, Friede mit der Vergangenheit, Vertrauen auf Gott, Skepsis dem eigenen Ego, den eigenen Emotionen gegenüber, beides Bereiche, die laut Pfarrer Kappes krank sein können und bei süchtigen Menschen auch sind – im Gegensatz zu unserer unsterblichen Seele, unser Selbst, wie Kappes sagt.

Wo stehe ich? Ich bin auf dem Weg, der zu werden, der ich Gottes Willen nach gedacht bin. Was den eigenen Willen nicht ausschließt, wer möchte schon „willenlos“ sein? Für mich ist es existenziell wichtig, Gottes Willen als den eben größeren anzusehen. Immer wieder um tägliche Führung bitten, mich führen zu lassen. Das gleicht einer abenteuerlichen Reise, mal Angst-besetzt, da wo das Vertrauen (noch) nicht reicht, mal zuversichtlich, meist aber als spannend empfunden. Langweilig wurde mir in den vergangenen 22 Jahren jedenfalls noch nie 😉 Wie wichtig Vertrauen ist, zeigen gerade diese Zeiten immer wieder neu. Richtung und Weg stimmen, wofür ich dankbar bin.

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Grundbedürfnisse & Mangel

Eigentlich – beschreibt, wie etwas sein sollte, aber nicht ist. Eigentlich ist es für die meisten Menschen selbstverständlich, auf sich zu achten, auf die psychische und physische Befindlichkeit. Für mich als suchtkranker Mensch ist es dies nicht. Wenn ich den Motor meiner Suchterkrankung beschreiben soll, fallen mir spontan zwei Begriffe ein: Flucht und Mangel. Flucht vor mir selbst, mich mir selbst nicht stellen wollen sowie Mangel an (Selbst-) Liebe, Eigenverantwortung, Fürsorge für mich selbst. Was keinen Widerspruch zu meinem maßlosen süchtigen Verhalten darstellt: Ein Fass ohne Boden wird niemals gefüllt.

Den inneren Mangel zu befrieden, meine Seele zu füllen mit Frieden, Vertrauen und Zuversicht, das ist ein Prozess, der lebenslang andauert. Heute glaube ich den Worten der AA-Freunde – die Dauer sei mindestens ebenso lang wie die aktive, süchtige Zeit. Sie wussten um elementare Zusammenhänge zwischen Körper und Seele, gut in Erinnerung geblieben ist mir dieser Halbsatz:

Nicht hungrig, nicht durstig, nicht müde.

Äußerer Mangel – in meiner aktiven Zeit achtete ich in keiner Weise auf mich. Ich aß zu wenig und meist wenig Nahrhaftes, trank – schon klar, was, und schlief zu wenig und zu schlecht. Hygiene und äußeren Erscheinung waren oft dem entsprechend. Trocken und clean fing ich genau hier an, auf mich zu achten. Neben geistiger Nahrung, in meinem Fall alle verfügbare AA-Literatur, aber auch weit darüber hinaus, fing ich an, auf meine Grundbedürfnisse zu achten. Lernte kochen, lernte Neugier zu leben, lernte, wieder Struktur in meine Tage zu bekommen. Für mich zu sorgen eben, was soziale Kontakte mit einschließt. Einsamkeit (nicht allein-sein) ist auch ein Mangel, den ich, wenn ich wirklich möchte, relativ leicht beheben kann.

Warum bewegt mich all das, sollte doch schon längst selbstverständlich sein, meint der innere Kritiker. Ist es aber nicht immer. Mal fällt es mir einfach nicht auf, wie müde ich wirklich bin, mache einfach weiter und wundere mich dann über meine Gereiztheit und meine Aggressionen. Dann kann ich mich wunderbar empören, Anlässe gibt es in dieser Zeit mehr als reichlich. Oder ich werde schlicht krank am Körper, siehe neulich. Mangel hat viele Gesichter. Bei der fälligen Innenschau, der nach Möglichkeit täglichen Inventur sowie im Austausch mit anderen Betroffenen werde ich wieder an die kurzen, knappen vermeintlichen Binsenweisheiten erinnert, siehe oben.

Eigentlich ist es so einfach – eigentlich eben.

Bild von Markus Grolik aus dem Buch „Therapeutische Cartoons“ (Holzbaum Verlag): www.komischekuenste.com/shop/therapeutische-cartoons
(Werbung, unbezahlt)

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Nur für den Augenblick

Friede – ein flüchtiger Zustand, denke ich, während ich gemeinsam mit Püppi die warmen Sonnenstrahlen genieße. Püppi`s Welt ist für den Moment in Ordnung, Sonne von oben und die Heizung von unten. Das ist nicht die Regel, seit sein Bruder vor fast zwei Monaten verstarb. Püppi klebt seitdem förmlich an uns und klagt uns ebenso herzzerreißend wie lautstark an, Tag für Tag. Es tut weh … wir werden uns demnächst nach einem Artgenossen für ihn umschauen. Ein Baby-Katzenmädchen, das könnte gehen. Da hat Püppi vielleicht eine Aufgabe, keinen Konkurrenten, kann erziehen und hat wen zum spielen und toben.

Alles flüchtig und nur geliehen, denke ich, während ich mir die unsäglich dreckigen Scheiben betrachte, die zwar wahrgenommen werden, aber weder die Liebste noch mich wirklich stören. Püppi überhaupt mal gar nicht. Bürgerlich geht anders…

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 Es fühlt sich gut an, hier einfach nur zu sitzen und zu spüren, wie leer so ein Kopf sein kann, in manchen Momenten. Ein anderes Gefühl als die innere Leere, die mir auch vertraut ist. Gott sei Dank ist auch sie ein eher flüchtiger Zustand, und, wie der Mann vom Fach neulich zu mir meinte, recht normal, wenn man sich 22 Jahre lang regelmäßig selbst vergiftet hat, nach allen Regeln der Kunst. Das hinterließe eben Spuren in Gehirn. Aha, dachte ich in dem Moment, keiner Zuhause sozusagen. Solche Aussagen sind mir nicht neu, nichts dergleichen bleibt ohne Folgen. Auch, wenn mich solche Worte an manche Erlebnisse aus Jugend und Kindheit erinnern, die mindestens so toxisch wirkten wie die spätere, chemische Zerstörung. Bleibt zumindest die Hoffnung, das der verbliebene „Rest“ nicht nur zum Überleben reichen möge, sondern auch für weitere friedvolle Augenblicke wie eben jetzt.

Ziele möge ich definieren, meinte der Fachmann. Das sei Teil der Behandlung, und drückt mir weitere vorformulierte Frage- und Antwortbögen in die Hand, deren Beantwortung wahrscheinlich nicht nur der reinen Erkenntnis dient, sondern auch gut abgerechnet werden kann. Also nicht das beliebte Ausschlussverfahren, frei nach dem Motto „dies möchte ich nicht mehr, und das, jenes auch nicht“. „Voll erwischt“, denke ich, Ziele zu definieren war schon immer eine schwere Übung für mich. Wachstum durch Krisen, das ging in Ordnung, bis dahin. Mit dem so beliebten Ausschlussverfahren bin ich eigentlich auch recht weit gekommen, jedenfalls für meine Verhältnisse. Manchmal frage ich mich, warum Ziele so wichtig sind. Braucht es nicht erst einmal die weiße Wand, ein leeres Gefäß, um etwas Neues entstehen zu lassen? Momentan fühlt es sich so an, als kämen die Antworten oder das, was man Ziele nennt, von allein zu mir, sobald da Platz wäre.

Der Boden schwankt jetzt gerade jedenfalls etwas weniger als in den letzten Wochen und mein Vertrauen in meine höhere Macht fühlt sich ebenso wieder etwas tragfähiger an. Was Hoffnung macht…

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Angekommen

Der Navi sagt, wir sind da und ich schaue mich um, wo denn zu parken wäre, die übliche Orientierung halt. Es regnet in Strömen und Kies knirscht unten den Rädern, ich fahre auf einem kleinen Parkplatz. Ein groß gewachsener Kerl kommt uns entgegen und hält mich schon von weitem fest im Blick.

Kenne ich, denkt es in mir, bist schließlich auf`m Dorf. Dörfler ticken anders als Städter, beim Anblick von Fremden. Im bergischen Land, also mehr weiter draußen hinter den dunklen Wupperbergen auf den einsamen Bergrücken, da kann es einem Fremden durchaus passieren, dass erst einmal eine Ladung Schrot losgeht und dann nach des Besuchers Begehr gefragt wird. Gerade nach Einbruch der Dunkelheit, wobei allerdings auch das Tageslich keine Gewähr für Unversehrtheit ist.

Bevor meine Phantasie endgültig mit mir durchgeht, beende ich die mittelalterlichen Schlachten in meinem Kopf, kurbele die Scheibe herunter und gehe gesittet in den Dialog. Ob er mir helfen könne, fragt er mit dunkler, gestrenger Stimme. Ja, sage ich, ich suche den Eingang zu der Kneipe hier. Immer noch fest im Blickkontakt tönt es mir entgegen: Lassen Sie den Wagen hier stehen und folgen Sie mir, der Eingang ist um die Ecke, aber es gibt wegen dem Regen heute eine Abkürzung. Ich bin im übrigen ihr Pensionswirt. Mit Betonung auf Pension.

„Landcafe“ stand irgendwo auf einem Schild, die Liebste hat die Unterkunft klar gemacht. Der gestrenge Pensionswirt entpuppt sich als recht umgänglich, das Bergische lässt grüßen, denkt es wieder irgendwo weiter hinten im Kopf. Wir lassen uns einweisen in die Lokalität und der nicht mehr ganz so Gestrenge zeigt uns den Aufenthaltsraum. Hier, sagt er und zeigt auf ein Kühlfach hinter dem Tresen, weil Sie gerade von Kneipe sprachen – da sind Getränke, wenn Sie des Abends Durst bekommen, bedienen Sie sich und schreiben alles auf dem Block da. Brauche ich nicht wegen jedem Bier extra hier rüber kommen.

Wenn der wüsste, denke ich. Weiß er aber nicht, er muss auch nicht wissen, dass ich wegen meiner Vergesslichkeit, das Aufhören betreffend, lieber keinen Alkohol trinke. Lieber bedanke ich mich artig und bitte um Verständnis für meine Wortwahl – manche Worte sind halt schneller als andere…

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Rock `N Roll in der Zehnten

Wie viel Vergangenheit schimmert in der Gegenwart ? Und – blieb eigentlich etwas zurück, von den endlosen versumpften Nächten, damals. Von der sinnfreien Zeit im Rausch. Zunächst einmal hat sich die Definition von sinnfrei verändert. Besser gesagt, in`s Gegenteil verkehrt. Sinnfrei war damals die öde Schufterei Wochentags, sinnfrei war irgendwie alles, was an das Leben der Alten erinnerte. So, wie aus heutiger Sicht die vielen komatösen Zustände sinnfrei scheinen.

Es blieb noch mehr zurück, aus dieser Zeit. Jede Menge Erinnerungen. Scham ? Manchmal auch das. Wobei heute die Dankbarkeit vorherrscht, anders leben zu dürfen. Überhaupt noch leben zu dürfen, weil schon einige von damals nicht mehr hier sind.

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Tatort: Das schwarze Hochhaus. Es gab und gibt bis heute nur das Eine im Dorf.
Tatzeit: Mitte bis Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts.
Protagonisten: Der Lange, der Seibi (so kann das gehen, mit dem spitzen Namen, wenn man trinkt und gerne spontan laut lacht), und meine Wenigkeit. Einen spitzen Namen hatte ich natürlich auch, der allerdings meinen Familien-Namen verraten würde. Lasse ich darum mal dezent weg. Ansonsten neben dem Nordlicht, das irgendwie immer dabei war, noch wechselnde Nebendarsteller sowie gewisse Frauen, die nicht davon abzuhalten waren, uns Gesellschaft zu leisten.

Das schwarze Hochhaus. Es hatte seinen Namen von dem hübschen Versuch der damaligen Erbauer, dem elenden Plattenbau mit bergischen Schiefer ein wenig von der Tristesse zu nehmen. Ein Unterfangen, was nur von weitem betrachtet erfolgreich war. Sonst war und ist dieses Ding bestimmt bis heute das, was es immer schon war: Preisgünstiger Wohnraum für viele Menschen, viel zu dicht aufeinander gedrängt.

Laubengänge laufen rundherum, ich glaube, dort wohnen knapp 100 Parteien. Es kam öfter vor, dass jemand seinem Leben von dort aus ein Ende setze. Was unter den Überlebenden Volksfest-ähnliche Zustände provozierte. Man stand in Scharen auf den Gängen und diskutierte über mehrere Etagen lautstark das Geschehen (Whatsapp und das blaue Buch gab es ja noch nicht).

Weiter gab es damals dort einen Müllschlucker auf jeder Etage. Eine Einrichtung, die zu groben Unfug animierte, gerade kurz nach dem Jahreswechsel. Feuerwerk, von oben durch den Schlucker auf die Reise geschickt, sorgte für lustig aufspringende Klappen in den unteren Stockwerken.

Jedenfalls von oben betrachtet,

Von oben sah dort überhaupt so einiges anders aus. Seibis Bude war auf der Zehnten, eine überschaubare Zweiraum-Wohnung mit Balkon und gewaltigen Ausblick. Klassisches Wohnzimmer-Deko gab es dort eher wenig, dafür einige Seefahrer-Devotionalien als Erinnerung an die Marine. Und Musik natürlich. Vor allem Musik. Laut, schnell, hart. So, wie die Partys eben waren. Wie überhaupt das Lebensgefühl in diesen Tagen zwischen Fleisch und Fisch. Ausgedehnte Spät-Pubertät traf treusorgende Familienväter (wehe, wenn sie los gelassen). Traf Typen wie mich, die planlos ihre Zeit verschleuderten, mangels oder auch mit besseren Wissen.

Musik und Gier auf Rausch war der Kitt, der uns zusammen hielt. Der Lange und Seibi waren ausgesprochene Fußball-Fans, richtige Wohnzimmer-Hooligans, die komplett austicken konnten, wenn sich die Dinge auf dem Schirm nicht wie erhofft entwickelten.

Falls doch, dann ebenso.

Damit konnte ich nie wirklich etwas anfangen, allenfalls mit der Emotionalität meiner Kollegen, die mich faszinierte. Mit dem Langen verband mich über die Sauferei hinaus der gemeinsame Beruf, mit dem Seibi ein gemeinsamer Hang zur Philosophie, zu Hintergründigem, gerne verpackt in Liedermacher-Kunst.

Schräge Auftritte liebten wir alle. Die Moral konnten die Alten behalten, Arsch voll – toll. Arsch voller – toller. Rechts war Gas und rechts wurde überholt, Auf den gerne spontanen Feten sowieso. Im schwarzen Hochhaus erst recht. Die nötige Infrastruktur war vorhanden, für die regelmäßig eintretenden Notfälle (Bier alle, mitten in der Nacht) gab es Kappes, ein paar Hundert Meter weiter. (Achtung, spitzer Name, Kappes hieß eigentlich so ähnlich wie das leckere, heimische Wintergemüse)

Kappes hatte eine ehemalige Tankstelle umfunktioniert, in eine mehr oder weniger gut gehende Pommes-Schmiede, verbunden mit Kfz-Handel der unteren Kategorie und eben Flaschbier. Jenes war in der ehemaligen Werkstatt deponiert und wurde von einem räudigen Köter bewacht. Das arme Tier konnte Nachts nicht raus und ein ungeschriebenes Gesetz besagte: Kein Bier vom Kappes aus der Flasche trinken! Man konnte nie wissen … Bei besagten, nächtlichen Notständen wurde also Kappes aufgesucht, der auf der anderen Seite der Straße in einem netten Reihenhaus-Viertel lebte und lautstark geweckt. Die Sorge um Ärger mit den Nachbarn sowie die Aussicht auf ein gutes Geschäft trieben ihn dann meist zügig uns zu Diensten.

Die Nachbarn. Ein Thema für sich. Viele Jahre später war ich schon länger trocken und hatte Nachbarn, die mir in Sachen damaliger Lautstärke nicht nachstanden – alles kommt zurück im Leben. Was damals niemanden von uns interessierte. Der Nachbar unter Seibis Domizil hieß Henry. Henry hatte die Arschkarte, regelmäßig. Wenn ihm nicht gerade aus einem defekten Küchenabfluss stinkige Brühe in die Wohnung lief, hatte er verständliche Probleme mit der Nachtruhe. Damit war er nicht alleine, sicher. Meist kam er dann irgendwann hoch, wollte um etwas Ruhe bitten und wurde im Gegenzug zum mitsaufen eingeladen. Was auch meist ganz gut funktionierte. Kam Henry mal nicht, wurde er so lange von uns gerufen, bis er schlussendlich vor der Türe stand und gebührend empfangen wurde.

Geht doch.

Manchmal kamen auch ungebetene Gäste, damals noch gekleidet in dezentem Grün. Einmal sogar durch die geschlossene Türe, derweil niemand der Übrig-gebliebenen die Schelle hören konnte. War halt laut und alle waren Bären-voll. Dann war Schluss mit lustig, drohten die Herren doch mit Konfiszierung des musikalischen Equipment. Was gar nicht ging, verständlicher Weise.

Ärger war also in gewisser Weise vorprogrammiert. Nicht untereinander, nie. Der Feind trug Grün. Oder High-Heels. Wie schon eingangs erwähnt, gab es gewisse Frauen, die unbedingt dabei sein wollten. Sei es, um kräftig mit zu zechen (Roter mit Genever lief toll), sei es, um ein Minimum an Nähe zu dem geliebten Menschen zu leben. Das Objekt dieses nur zu verständlichen Wunsches war allerdings anderweitig beschäftigt, was schlussendlich schlechte Laune provozierte. Dann wurde gemault und im Gegenzug flog auch schon einmal ein Damenschuh zielsicher unter dem Gejohle der Bande durch die stets offene Balkon-Türe geradewegs Richtung Parterre. Außenbords gedrückt, maritim gesprochen.

Überhaupt, der Balkon. DER Versammlungsort für lautstarke Verabschiedungen frühzeitig aufgebrochener Gäste. Die zweite Wahl bei der Suche nach einem Ort der Erleichterung, wenn auf der Toilette gerade gevögelt wurde. Oder die erste Wahl, einfach so, weil`s lustig plätscherte. Sonnenschirme weiter unten waren darum bei den ersten Klängen der Musik meist schon zusammen gefaltet, um die Blumenkästen musste man sich angesichts des niedrigen Durchschnittsalters der Akteure keine Sorgen machen.

Zeitweise gehörten zur Wohnung noch zwei ausgewachsene, schwarze Kater, die auf ihre Weise mit im Geschehen involviert waren. Dazu muss angemerkt werden, dass das Bad leider recht klein ausgefallen war und die Katzentoilette darum in der guten Stube unter dem Esstisch stand. Der Schreiber kann versichern, am Morgen nach so manchen Nächten wurde spätestens nach den Verrichtungen der beiden genau das getan, was eigentlich nicht geplant war:
Kaffee und sonstige Nahrung wurden geschmäht…und das erste Bier des Tages aufgemacht.

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Schlussendlich möchte der Schreiber, der sich hier in der Rolle des Chronisten wiederfindet, betonen, dass er in keiner Weise stolz auf das Geschehen in jener Zeit ist. Er fühlt sich der Wahrheit verpflichtet, bevor das alles in gnädige Vergessenheit gerät. Was nicht ausschließt, dass gelegentlich ein leichter Hang zur Übertreibung mit ihm durchgegangen ist.

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Piccolo

Nicht, das ich sie wirklich sehen könnte, sie sitzt im Zug schräg vor mir. Es dämmert, und die Zugscheiben geben Spiegelbilder frei, die sich mit dem Blick durch den schmalen Spalt zwischen den Sitzen zu einem etwas größeren Bildausschnitt ergänzen.

Gepflegt wirkt sie, deren Alter schwer zu schätzen ist. Sauber und modisch gekleidet verbringt sie viel Zeit während der Reise mit ihren Fingernägeln, die über einem sorgsam ausgebreiteten Tuch akkurat gefeilt werden. Sie ist sehr schlank, so das ihr leicht gedunsenes Gesicht nicht recht zu ihrer Figur passen will. Zunächst spüre ich nur, das sie schwitzt, obwohl es im Abteil eher kühl ist.

Sie ist routiniert. Die Flasche steckt verschämt hinter einer Zeitung im Gepäcknetz der Sitzlehne. Sie hat zwei Handtaschen, eine ganz unverdächtige typische Damenhandtasche sowie eine zweite, die problemlos als Beautycase durchgeht, modisch anzuschauen. Das ist ihr Depot, sie ist meisterlich in der Kunst, fast geräuschlos eine leere Flasche gegen eine volle zu tauschen. Regelmäßig nimmt sie einen Schluck, nach einem genau festgelegten Zeitplan. Einem Zeitplan, den ihre Besatzer vorgeben, jene stillen Machthaber, die bei körperlicher Gewöhnung an Alkohol den Takt vorgeben. Der Spiegel will gehalten werden, ohne dem das Leben zur Hölle wird.

So, wie alles einem genau festgelegtem Plan zu folgen scheint. Immer wieder der Whatsapp-Check auf dem Smartphon, wieder Maniküre, wieder ein kleiner Schluck. Nur ein Telefonat, offensichtlich mit einem Kind, unterbricht die Routine, ebenso ein kurzes Nickerchen mit den gefalteten, makellosen Händen.

Gern hätte ich mit ihr gesprochen, wohl wissend, wie fruchtlos solche Gespräche in der Regel verlaufen. Hätte ihr gerne von mir erzählt, von dem nassen Säufer, der ich einst war. Der zum Ende hin auch beinahe den unheimlichen Machthabern zum Opfer gefallen wäre, die bei Nichtbeachtung Schweißausbrüche und lose flatternde Nervenenden produzieren.

Was bleibt, ist die Gewissheit, das jeder Mensch seinen eigenen Zeitplan Gottes in sich trägt. Als wir aussteigen, bleibt sie sitzen. Fast schon symbolisch. Viele steigen nie aus, gehen diesen Weg bis zum Ende. Was mir bleibt, ist tiefe Dankbarkeit, anders leben zu dürfen einerseits sowie die Bitte an unseren Schöpfer, ihr beim aussteigen behilflich sein zu können.

Falls es sein Wille ist.

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Alte Bilder

Manche Sachen liegen über ein Vierteljahrhundert in Schränken umher, um dann, warum auch immer, hervorgeholt und gesichtet zu werden. So auch dieses Bildchen weiter unten, welches mir vom Eigentümer netterweise zugeschickt wurde.

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Beim Betrachten spult sich ein ganzer Film vor mir ab. 1990 – irgendwann im Sommer vermutlich. Seit 2 Jahren war meine vierjährige Weiterbildung beendet und ich eierte sehr planlos durch mein Leben.

Geliebt habe ich den Maurerporsche auf dem Bild, ein Ford Capri V6 – 2,0 mit satten 90 PS und altbackenem 3-Stufen-Automatikgetriebe, Stadtverbrauch dank Doppelvergaser-Anlage um die 11 Liter, für damals schon nicht übel. Mein Outfit war dem entsprechend, der Nimbus wollte schließlich gepflegt werden. Passend zum Fahrzeug gab es ein paar Fransen-besetzte Wildleder-Boots, von denen zumindest der linke bei schönem Wetter auch schon mal aus dem Fenster hing, dank Automatik-Schaltung kein Problem. Einen Fuchsschwanz gab es übrigens nicht, das habe ich bewußt (Welch ein Wort in dem Zusammenhang!) der Manta-Fraktion überlassen. Dafür schepperten ZZ-TOP und ähnliches aus dem Low-End Blaupunkt Kassetten-Deck.

Die Zeit damals war rückblickend für mich geprägt von Selbstüberschätzung, Planlosigkeit, Überheblichkeit, ein Zustand sehr weit von mir weg, aus heutiger Sicht. Die Woche war gefüllt mit Arbeit, die Wochenenden mit irgendwelchen Partys, wo ordentlich gesoffen und zumindest meinerseits auch gekifft wurde, sehr zum Leidwesen meiner Mitbewohnerin, die dem machtlos gegenüber stand. Immerhin hatte ich damals noch 10 Jahre Alkohol und Dope vor mir, oder, anders gerechnet, 12 Jahre hinter mir. Sozusagen mittendrin. Mein zweites Wohnzimmer damals war das Deja-Vu in Remscheid, welches sich kurz zuvor erfunden hatte und das es wundersamer Weise heute noch gibt. Zwei Brüder, die mit dem neuen Laden kräftig das sagenhafte Remscheider Nachtleben durcheinander brachten und meinesgleichen mit Flensburger, Tequilla und Rock`N Roll versorgten.

Wenige Monate später sollte mein Leben kräftig durchgeschüttelt werden, wovon ich in dem Sommer noch keine Ahnung hatte. Wie weiter oben schon beschrieben, beschränkte sich mein damaliger Bewußtheitsgrad auf gewisse Äußerlichkeiten. Vorläufig war ich mir meiner selbst noch sehr sicher.

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