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Blick zurück

Wenn sich die Gegenwart zum größten Teil auf die eigenen vier Wände beschränkt und die Zukunft sehr überschaubar ist, rückt die Vergangenheit in die Gegenwart, möchte Erlösung, will in Worte gekleidet werden.

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Manchmal telefonieren sie. Das geht nur zu merkwürdigen Zeiten, weil sie der vollständige Erddurchmesser trennt. So geht bei ihr morgens um 7 das Telefon, am anderen Ende ist es 7 Uhr am Abend. Aber sie reden schon beinahe regelmäßig miteinander, wohl wissend, dass sie sich niemals mehr wiedersehen werden. Es gibt immer einiges zu erzählen und niemand nimmt Anstoß an Tageszeit und Dauer des Telefonats, das sich schonmal über Stunden ziehen kann. Ihre beiden Männer sind verstorben. Die beiden sind nicht nur Cousinen, sie waren auch Freundinnen, damals. Im „dritten Reich“, als Kinder. Die Frau am anderen Ende der Welt ist Jahrgang 1934, die andere ein Jahr jünger.

Das Tal der Wupper lag bereits in Trümmern, die beiden nahmen gezwungenermaßen an der so genannten Kinderlandverschickung teil. Im selben Schlafsaal untergebracht, durften sie nicht miteinander reden. Auch durften sie des Nachts nicht zur Latrine, was zu heimlicher Erleichterung in irgendwelchen Ecken führte. Beide wurden nacheinander krank und fanden sich auf der Krankenstation wieder. Hier durften sie immerhin miteinander sprechen.

Sie reden von der Flucht vor den Russen, zurück in den Westen. Von dem eiskalten Winter auf Pferdewagen. Die eine verlor sämtliche Zehen an beiden Füßen auf dem Weg, die andere hatte Glück, man konnte ihr das Leben unter großen Schmerzen wieder in die Zehen zurück massieren. Bilder werden getauscht, von dieser Fahrt durch die Hölle. Am schlimmsten seien die Toten gewesen, die sie einfach während der Fahrt vom Wagen warfen. Es gab keine Zeit, sie in dem hartgefrorenen Boden zu bestatten. So viele Babys seien dabei gewesen, kleine steifgefrorene Bündel. Tränen fließen, fast 80 Jahre alte Tränen.

Die beiden tun sich gut, während sie sich ihre Lebensgeschichten erzählen und den Horror aufzuarbeiten versuchen.

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Manchmal reden wir von den Nachrichten. Sie wundert sich manchmal über die Berichte, wobei ich nicht weiß, ob „wundern“ das rechte Wort ist. Ein Angriff, sagt sie und es ist von 5, 10 oder 20 Toten die Rede. Sie spricht direkt im Anschluss daran von dem großen Finale hier in der Stadt. Von der Nacht, in der es Feuer vom Himmel regnete, das sie aus dem Kellerloch beobachten konnte. Wie Regentropfen, sagt sie. Von dem Morgen danach, als sie zum spielen raus ging, in den Park, weil es Drinnen nicht mehr gab. Der Park, in dem die Toten der Nacht lagen, sehr viele Tote, ordentlich aufgereiht nebeneinander. Ist jeder einer zu viel, sage ich, und sie nickt stumm.

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Zum Schluss spare ich mir jeden weiteren persönlichen oder auch politischen Kommentar, obgleich mein Herz vom schreiben gerade übervoll ist. Um mich soll es hier an dieser Stelle nicht gehen.

Gedanken zur Zeit

Wasser – für mich hauptsächlich Lebenselixier und ein Metapher-taugliches Element, bis dahin. Als Gefahr habe ich es in der Vergangenheit eher am Rande wahrgenommen, lebe ich doch auf einem Berg und hatte nicht viel mit den Schattenseiten vom Wasser zu tun, von diversen Kleinigkeiten wie ein vollgelaufener Keller und eine verstopfte Dachrinne mit entsprechenden Folgen in unserer Wohnung mal abgesehen. Das, was ich derzeit in den von Hochwasser betroffenen Gebieten sehe, macht mich fassungslos, wie so viele andere Menschen auch. Es wird sich etwas ändern müssen, nur nicht in dem Tempo, wie es die derzeitige allgemeine Betroffenheit am liebsten hätte, was ich nur zu gut mitfühlen kann, geht mir das Schicksal der Menschen in den vom Hochwasser verwüsteten Gebieten ebenso nahe.

Wer seinen Blick weiter schweifen lässt, weiß, dass tiefe Betroffenheit kein guter Ratgeber sein muss, oft genug eben nicht ist. Dogmatisch angetriebene Entscheidungen in Sachen Verkehrs- und Energiepolitik um den Preis von schweren, letztendlich staatsgefährdenden sozialen Verwerfungen dürfen nicht der Weg sein. Lohn und Brot, ein Auskommen für alle haben oberste Priorität, für mich, des inneren Friedens Willen. Die politische Kunst der nächsten Jahrzehnte wird sein, dieses Grundbedürfnis mit den Herausforderungen des auch von uns Menschen gemachten Klimawandels zusammen gehen zu lassen. Wege und Ansätze gibt es viele, ich bin sehr gespannt, wie es weiter geht. Zum Schluss noch ein Wort an den Kanzlerkandidaten der Union, Armin Laschet: Einfühlsamkeit angesichts zahlreicher Menschenopfer geht anders, nicht mit solchen Worten, auch wenn Sie im Kern nicht so falsch liegen. Ich habe ihren Auftritt in West3 dito gesehen…

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Genug der Politik. Der Wasser-Tiger, dieser Blog hier, namentlich inspiriert von meinem Geburtsjahr, 1962 – in letzter Zeit ist es still geworden, schreibe ich doch mehr oder weniger regelmäßig eher auf der Wupperpostille. Weiter machen? Manchmal denke ich, es reicht mit einem Blog, es braucht ihn nicht mehr, den Wassertiger. Mal sehen, für`s Erste lass ich es so weiter laufen, auch wenn sich zumeist nur Bots für die Ecke hier zu interessieren scheinen. Zumindest die arithmetische Erfüllung des chinesischen 60-Jahre-Zyklus im nächsten Jahr, dito einem Jahr des Wassertigers, soll er mit erleben.

Immerhin bietet diese Nische hier Gelegenheit, mal die Gedanken zu sammeln und passende Worte, idealerweise in ganzen Sätzen für die momentane Gefühlslage zu finden, etwas abseits der schreibenden Community. Stichworte gibt es reichlich. Familie, Gesellschaft & Politik, Idealismus, Pragmatismus, Polarisierung, Leben mit Widersprüchen, mit Zwiespalt. Gesellschaft und Politik hatte ich schon, siehe oben, das soll reichen, für heute.

Familie – mein Verhältnis zu dieser kleinsten Form von Gemeinschaft ist zwiegespalten, wie so vieles in meinem Leben, das von Polaritäten und Widersprüchen geprägt wurde und wird. Einerseits bin ich erschüttert, wenn ich am Beispiel meiner Eltern sehe, was alt werden, sehr alt werden bedeuten kann, nicht nur gesundheitlich, auch mit Blick auf den Umgang miteinander, mit Wesensveränderungen im Alter oder besser die teils heftigen Verstärkungen und Kristallisationen schon immer vorhandener Charaktereigenschaften und Neigungen. Ein Buchzitat dazu fand neulich den Weg zu mir, das ich sehr passend finde:

„Wenn wir ein gewisses Alter überschritten haben, werfen die Seele des Kindes, das wir gewesen, und die Seelen der Toten, aus denen wir hervorgegangen sind, mit vollen Händen ihre Schätze und ihren bösen Zauber auf uns und verlangen, dass sie zu ihrem Teil an den neuen Gefühlen mitwirken können, die wir empfinden und in denen wir sie, nachdem wir ihr altes Bild ausgelöscht haben, in einer neuen Schöpfung wieder zusammenschmelzen.“

Marcel Proust – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit/ Die Gefangene 
Danke für den Buchtipp, liebe G. 😉

Auf der anderen Seite sehe ich mit Freude, wie mein großes Kind seinen Weg geht, wie meine Anverwandtschaft dabei ist, mit vielen Kindern liebevoll eigene Ableger der großen Sippe zu bilden. Ich habe keine Angst mehr, meinen Vater all zu ähnlich zu werden, was den Umgang mit dem anderen Geschlecht angeht, damit habe ich bereits abgeschlossen, zum Leidwesen meiner ersten Frau. Auch in Sachen Vertrauen bin ich zu lange schon auf einem guten Weg, dass ich noch Angst haben müsste, ihm ähnlicher zu sein, als mir lieb ist. Auch kann ich die ebenso vorhandenen positiven Seiten meiner „familiären Sozialisierung“ heute durchaus erkennen und annehmen, für all das bin ich meinem Schöpfer sehr dankbar.

Zwiespalt auch an anderen Stellen in meinem Leben: Idealismus vs. Pragmatismus, vs. realistischer Einschätzungen der Gegenwart, oder besser dem, was ich dafür halte. So halte ich mich einerseits für einem gefühlsbetonten, potentiell mitfühlenden Menschen, der allerdings ebenso mit ordentlichen Portionen Ego & Überlebenswillen ausgestattet worden ist, kombiniert mit einer manchmal selbst für mich schwer erträglichen inneren Kälte & Distanz mit Blick auf manche menschliche Interaktionen, auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Dazu gehört die stete Gefahr des Abgleitens in Sarkasmus, was ich gelegentlich auch zulasse und kultiviere, wovor ich mich hüte, ist blanker, menschenverachtender Zynismus, zu dem ich ebenso fähig bin. Das Bindeglied zwischen all diesen Facetten ist mein Glaube, der mich nicht nur in die Lage versetzt, all diese inneren Widersprüche zu erkennen, anzunehmen und zu (er-)tragen, sondern der mich auch verweilen lässt, in der Gegenwart, wie immer sie auch gerade geartet ist. Flucht bedeutet für mich immer Morpheus`sche Traumwelten, die ich mir nicht mehr leisten will. Bis heute und nur für heute funktioniert das seit vielen Jahren recht gut, das wahrscheinlich größte Geschenk des Universums für mich.

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Exkurs

Die Arbeit staut sich, mancherlei Alltags-Verrichtungen und Pflichten kleben wie zäher Brei und lähmen die Seele, der es gefühlt zuviel des Ganzen ist, zumindest zeitweise. Gruppen-Aktivitäten haben sich zum PC hin verlagert, was an sich gut ist, aber kein wirklicher Ersatz für die physische Nähe von Menschen. Dort, wo ich es gerne leben täte, beruflich, da geht es leider nicht, weil ich einen altmodischen, technischen Beruf habe und tatsächlich noch des Morgens in die Werkstatt gehe, hin zu den ausgetretenen Pfaden zwischen Schreibtisch und den mit mir gealterten Maschinen. Wenn ich in einigen Jahren, so Gott und der Konzern es wollen, dort meinen letzten Tag haben werde, sind die Chancen groß, das meine treuen stählernen Gefährten zu schnöden Kernschrott degradiert werden, wer weiß. Mit in den so genannten, derzeit mehr oder weniger beliebten Home-Office nehmen kann ich sie leider nicht, wegen ausgeprägter Schwergewichtigkeit, extremen Hang zum lärmen und altersbedingten Schwächen wie permanentes kleckern und tropfen.

Anderes drängt an die Oberfläche, versucht sich Platz zu schaffen, zwischen der Arbeit und den Pflichten. Mal darf ich inne halten und dann wird ein einzelnes Stichwort im digitalen Notizbuch festgehalten. Der Versuch, das Gefühl eines Augenblicks zu beschreiben und bei solchen Gelegenheiten wie eben jetzt hervorzuholen und zu vertiefen. Was nicht so einfach ist, wie ich gerade merke. Stehen doch dort im Memo unter anderen so getragene Begriffe wie Auflösung, Transzendenz, Pelzgefühl, letzte Wahrheit, Urgrund. Zeugnisse eines Lebensgefühls unterhalb des Alltags, Zeugnisse mancher teils erschreckender, teils überraschender Erkenntnisse, die sich durch Risse und Spalten in der Geschäftigkeit ihren Weg nach „oben“ suchen. Oder durch bewusste Ruhepausen, ohne die bewährten Ablenkungen, an`s Licht gelockt werden. Die astrologischen Entsprechungen, deren Interpretationen  in den einschlägigen, allgemein eher mit Vorsicht zu genießenden Foren und Büchern nachzulesen sind, beziehen sich auf Mond und Venus nicht nur im zwölften Haus, auch im Sternbild Krebs, was zu guten Teilen passt. Als Teile der mir mitgegebenen Optionen, nicht mehr und nicht weniger. Die äußere Entsprechung in der Gegenwart ist das begleiten meiner Eltern auf ihren letzten Wegen. Ungewohnte Nähe, der ich jahrzehntelang ausgewichen bin und nun mangels gangbarer Alternativen leben darf. Macht Sinn, denke ich und kann es annehmen, wie es ist, fernab der alten Muster, weder verängstigtes Kind noch überheblicher Oberlehrer, altes Leben zwischen den Polen, hinter mir gelassen. Auf der anderen Seite darf ich zu meiner Freude erleben, wie mein großes, leibliches Kind erwachsen wird, Stück für Stück. Werden und vergehen eben.

Und so tauche ich wieder auf, schaue das Flauschknäuel namens Lilit, unsere dunkle Seite des Mondes, das es sich dicht bei mir hinter dem Monitor leise schnarchend gemütlich gemacht hat, höre die Stimme der mittlerweile eingetroffenen Liebsten, die mich an so profanes wie Abendbrot erinnert. Mit Recht – und eben mit Hunger. So sei es dann…

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Gestreckt sieht man mehr…

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Am Straßenrand

Der Feierabendverkehr wälzt sich lautstark und zäh den Berg hinauf Richtung Autobahn, während ich den Wagen aufschließe und mich hinein fallen lasse, bewegt noch vom Besuch gerade eben. Gerade als ich den Motor starten möchte, schauen mich durch das Beifahrerfenster vom Gehweg aus zwei etwas listige, aber freundliche, kleine Augen an. Sie gehören zu einer alten Dame, gebückt, mit Rollator.

Scheint jetzt gerade für mich DAS Thema zu sein … , geht mir durch den Kopf, während ich die Scheibe rechts herunter kurbele, mutmaßend, sie wolle vielleicht mitgenommen werden. Eine dünne, alte, langsame, aber bestimmte Stimme begrüßt mich freundlich und meint, sie sei 85 Jahre alt, würde in der Schönebecker wohnen und wollte zur Sparkasse, hätte aber irgendwie alles daheim vergessen. Nun wolle sie zu ihrer Freundin in der Nähe, ob sie ihr aushelfen könne, mit vier Euro, aber die sei nicht da …um das ganze abzukürzen, frage ich, ob sie Geld brauche.

„Ja, wenn sie so freundlich wären“, tönt es liebenswürdig in meine Richtung. Während ich wieder aussteige und einen Fünfer heraus krame, denke ich, wenn sie trickst, macht sie das ziemlich gut. Selbst, wenn die Geschichte erstunken und erlogen ist, sie möglicherweise solcher Art hier in der Nähe des Krankenhauses ihre Rente aufbessert, so hat sie zumindest eine Gage verdient ..

„Wo kommen Sie her ?“ fragt sie. „Elberfeld“, sage ich. „Und was machen sie hier, waren Sie im Krankenhaus ?“, fragt sie weiter neugierig. Obgleich es sie nichts angeht, sage ich,“ja, der Vater“. „Geht es ihm nicht gut ?“ fragt sie langsam, mich nicht aus den kleinen Augen lassend. „Nein“, sage ich, „er ist so alt wie Sie, krankes Herz, kranke Lunge …“  „Oh…“, sagt sie, sie wolle für ihn beten, ich sei ein Guter, hätte ihr sehr geholfen, und noch einmal wird sich überschwänglich bedankt.

Nachdem wir uns verabschiedet haben und ich die Heimfahrt angehe, denke ich, dass ein Gebet nie schaden kann, Fünfer hin, Fünfer her.

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Höre alten Leuten zu …

Der Titel stammt aus meinem Lieblingsgedicht von Joseph Beuys, „Lass`dich fallen“ oder auch „How to be an Artist“. Bei alten Frauen ist mir das meist recht leicht gefallen, viele von ihnen plaudern gerne, bei Gelegenheit. Ältere Männer sind anders. Die sind mehr für sich, glaube ich, in ihrer Welt aus reichlich Vergangenheit, der Gegenwart, und der sehr überschaubaren Zukunft.

Ausnahmen bestätigen das wohltuend, so wie heute Nachmittag. Getrieben von dem Wunsch, noch wenigstens ein Stündchen an die Luft zu kommen, in der Hoffnung, mein Kopfweh loszuwerden, fuhr ich bis zum alten Bahnhof Loh, an unserer Nordbahntrasse nebenan. Da saß er, mit schneeweißem Haar allein auf einer Bank unter dem alten Bahnsteigdach, schön im Schatten. Mit meiner hellen Haut liebe ich die Sonne auch nur begrenzt, also nehme ich neben ihm Platz.

Das Wetter – damit kommt man jetzt gerade immer in`s Gespräch. Toller Sommer, die armen Bauern, das wenige Getreide, aber das viele Obst. Was man alles heute gesund finden solle und wer da was von hätte. Früher war alles anders – eine Aussage, die ich mittlerweile nicht mehr spöttisch belächle, weil auch ich heute etwas von „früher“ erzählen kann, wenn auch nicht so viel.

Die vielen fremden Menschen hier im Land – wäre nicht gut. Flucht kennt er, bei Kriegsende war er gerade vier Jahre jung und mit seiner Mutter von Oberschlesien über Regensburg hier her gekommen. Dort in Regensburg trafen die beiden den Vater, frisch aus der Kriegsgefangenschaft. Ohne Internet und Telefon, so richtig mit Fügung, wie er sagt. Da hat jemand geguckt, für uns ...Er ist im übrigen etwas fassungslos, das jeder Flüchtling ein Mobilphon hat, wie das sein könne. Mein Einwand, das diese Dinger ja halt die einzige Verbindung zur Heimat seien, und somit teils wichtiger als ein paar Schuhe, nimmt er schweigend hin.

Er erzählt von seiner Flucht, von den Russen. Den schlimmsten Fehler, sagt er, den man machen konnte, war, die Haustür abzuschließen, wenn sie kamen. Dann wurden sie wild, wie er sagt, und brachten alle um, die sie vorfanden. Verstehen Sie das, fragt er mich und blickt mich durchdringend an. Ich nicke stumm. Seine Mutter wusste das und riss darum Türen und Fenster auf, wenn sie kamen. Er wurde von den Soldaten stets misstrauisch beäugt, der kleine blonde Junge. Germanski, sagten sie, aber nicht feindselig. Der Offizier schlief dann auf dem Bett, mit Stiefeln an den Füßen. Er solle sie ruhig ausziehen, sagt die Mutter irgendwann zu ihm, worauf ihr eindringlich klar gemacht wurde, dass man jederzeit mit den Deutschen rechnete … es stirbt sich halt schneller, auf Socken.

Wir erzählen eine Menge, sitzen bestimmt eine gefühlte Stunde zusammen, während der Wind unter dem Bahnhofsdach etwas frösteln lässt. Ich erzähle von meinen Eltern, die hier in der Stadt aufgewachsen sind. Drei Generationen, sage ich, braucht es, um wieder mit der Welt klar zukommen, nach solchen Kriegen. Das mein großes Kind der erste in unserer Familie ist, der emotional nichts mehr damit zu tun hat.

Der alte Mann erzählt von seiner längst erwachsenen Tochter, die in England studierte. Die EU heute, die Reisefreiheit, die Politik, Assimilation, (er nennt es nicht so, meint aber das gleiche), der Seehofer – der im übrigen ja nicht so ganz unrecht hätte, mit dem, was er sagen täte. Die AfD und ihre potentielle Mehrheitsfähigkeit in der Gesellschaft, die Brüder im Geiste bei der FDP, was die Wirtschaftspolitik anginge, und so weiter.

Eh wir uns versahen, waren wir bei Hitler und Göbbels. Er wäre fassungslos, das die Menschen die zwei damals so verehrten, dat waren doch zwei ausgesprochen schäbbige Kerle, meint er, während ich sinniere, dass Dämonen keinem Schönheitsideal entsprechen müssen. Überhaupt, die Äußerlichkeiten sind sein Thema. Die von der Linken da, das wäre ja `ne Granate, und der Oskar wäre ein echter Glückspilz – wir lachen beide herzhaft, auch wenn er der Meinung ist, dass die Wagenknecht ja in der falschen Partei wäre. Das will ich nicht weiter vertiefen, obgleich es schon eine Erörterung wert gewesen wäre, die Frage nach der richtigen Partei, So langsam drängt auch die Zeit zum Aufbruch.

Wir verabschieden uns, mir gefällt sein kräftiger Händedruck. Vielleicht sieht man sich wieder hier, sagt er und keiner fragt den anderen nach den Namen. Irgendwie unwichtig.

Begegnungen die ich mag, denke ich, und fahre entspannt heim.

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Geduld

Wir haben ihnen früher Geschichten vorgelesen. Viele Geschichten, regelmäßig, damals, als sie noch klein waren und nicht selbst lesen konnten. Manche Geschichten immer und immer wieder, die sogenannten Lieblings-Geschichten. Wochen oder gar Monate lang. Selbst, als uns die Stories zum Halse heraus hingen, taten wir ihnen den Gefallen.

So gesehen haben wir uns einen Bonus erarbeitet. Für später. Wenn wir wieder die gleichen Geschichten erzählen, von mancher Endlos-Schleife in unseren Köpfen produziert. Nur dienen diese Geschichten dann nicht zu ihrer Unterhaltung, sondern eher zu unserer Erleichterung. Für diesen Fall der Fälle wünsche ich unseren Kindern dieselbe Geduld mit uns, die wir einst mit ihnen hatten. Das sie im ungünstigsten Fall dann wie damals irgendwann friedlich einschlafen und nicht Augen-verdrehend das Weite suchen.

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