Archiv der Kategorie: Alkoholismus

In eigener Sache

Ursprünglich ein Kommentar anderswo.

Ich heiße Reiner, bin ein trockener Alkoholiker und ein süchtiger Mensch. In meiner aktiven Zeit waren Alkohol und Cannabis die Mittel der Wahl. Gerne in Kombination, erst kiffen, dann trinken. Die Reihenfolge musste stimmen, sonst ging das übel(er) aus. Gelegentliche Erfahrungen mit Speed/Koks gab es auch, das stand dann an erster Stelle, gefolgt von den genannten Downern.

Wenn ich von mir als einen süchtigen Menschen schreibe, beziehe ich dabei alle nichtstofflichen Süchte mit ein. Dazu zähle ich alles, was irgendwann pathologischen und destruktiven Charakter bekommt. Arbeits- Sex- Fresssucht, aber auch Geltungssucht sind Bestandteile dessen. Große Teile davon sind gelöst oder wenigstens reduziert, dafür bin ich dankbar. Hinter alledem konsumieren und süchtigem Verhalten stand bei mir ein innerlich zutiefst verunsicherter Mensch mit nur geringem Selbstvertrauen und einem nicht vorhandenem Geborgenheitsgefühl, Verlorenheit beschreibt es am besten. So, wie ich war, wollte ich micht nicht. Definieren konnte ich mich über beruflichem Erfolg und über meine vermeintliche Wortgewaltigkeit, gerade wenn ich breit war. Sucht ist für mich ein Sammelbegriff für alle möglichen (pathologischen) Verhaltensweisen, die vom Selbst ablenken sollen, vermeintlich Flucht, Fülle, Anerkennung und Selbstbestätigung bieten, was am Ende nur Selbstbetrug ist.

Was mir in meiner ersten trockenen Zeit, nachdem die allererste Euphorie verflogen war, am meisten zu schaffen machte, war ein Zustand von großer innerer Leere. Mit meiner ersten, „trockenen“ Liebesbeziehung, der es aufgrund ihrer psychischen Erkrankung ähnlich ging, war ich unglaublich viel unterwegs, jeder spirituelle Vortrag, jedes Seminar wurde mitgenommen, kaum ein potentieller Heilsbringer wurde ausgelassen. Rückblickend ein sehr spannende und aufregende Zeit, die sich über mehrere Jahre erstreckte, aber letztendlich aufgrund der Vielfalt auch sehr verwirrend und ohne die für mich nötige Erdhaftung.

Geblieben ist mir ein einfacher Glaube an meine namenlose höhere Macht, die, obgleich ich einer religiösen Gemeinschaft angehöre, nicht direkt mit einer solchen verbunden ist. Es brauchte zahllose Erfahrungen, um zu einem heute meist tragenden Geborgenheitsgefühl zu finden. Dankbarkeit auch für die kleinen Dinge am Tag lässt für mich heute keinen Raum für Mangel, gleich welcher Art. So ich mich rechtzeitig daran erinnere 🙂

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Sonntag früh, nach einer gewohnt unruhigen Nacht Zeit zum sammeln. Den Tag gestern Revue passieren lassen, ein paar stärkende Zeilen lesen, Morgenrituale. Zuhause war Thema gestern, hier. Ich habe ein physisches Zuhause, und dafür bin ich dankbar, in dieser Zeit, in der die Bilder aus den akuten Kriegsgebieten daran erinnern, dass es auch ganz anders kommen kann.

In mir sieht es dagegen wiederum anders aus. Die gegenwärtig anstehenden regelmäßige Besuche bei meinen Eltern erinnern mich daran, wo ich herkomme. Jahrzehnte lang habe ich den Kontakt auf ein Minimum begrenzt und hatte meine Gründe dafür. Das ist nun der Gebrechlichkeit wegen anders und ich stelle mich dem, so gut ich kann. Das ist weniger ehrenwert, als es klingt, damit folge ich lediglich einem als lehrreich erkannten Muster, entgegen dem, was ich einst mitbekommen habe. Innehalten, bleiben. Einfacher wäre – und mehr als einmal spüre ich diesen Impuls – einfach alles stehen und liegen zu lassen. Seht zu, ich haue ab. Mache ich natürlich nicht, weil ich es mir zum einen nicht verzeihen könnte, zum anderen weil ich davon überzeugt bin, dass das Universum auf solch ein Verhalten antwortet.

Was bleibt, ist eine Gemengelage aus anstehenden Aufgaben – das ist der leichtere Teil, den kann ich – und Gefühl, da sieht es anders aus. Heimatlos, was ein innerer Zustand ist und nicht an einen Ort oder an einen Menschen gebunden, verloren in der Welt, innerlich zerrissen, leer. Es ist nicht nur die Folge meiner aktiven süchtigen Zeit, die mich nach Meinung mehrerer Menschen vom Fach einige Nervenzellen gekostet haben soll. Es ist auch die Folge dessen, was ich nun aus der sich ergebenden Nähe erlebe, die Folge des gnadenlosen Blicks auf meine Wurzeln, auf meine familiäre Herkunft. Und nein, es geht nicht um Schuld oder dergleichen, jeder Mensch gibt stets sein Bestes, was nichts über dessen Qualität, über dessen Auswirkungen auf andere aussagt. Niemand, so sagt man, sucht sich bewusst seine Herkunft aus. Alles weitere ist Bestimmung, die sich unserem Verstand entzieht.

Dieses Gefühl, in meinem nur noch einige Tage währenden 60sten Lebensjahr auf einen weiteren Nullpunkt zuzusteuern – was negativer klingt, als es möglicherweise ist. Revue passieren lassen oder Innenschau halten hat immer wieder etwas mit Kapitulation zu tun. So ist es, jetzt. So wird es nicht bleiben – in absehbarer Zeit wird sich vieles gelöst, aufgelöst haben. Die Eltern werden mir voran gegangen sein, mein Berufsleben wird zu einem Ende gefunden haben. Was wird bleiben? Werde ich Heimat finden? Es gibt durchaus Hoffnung. Hoffnung darauf, dass diese Kraft, die Welten erschafft und immer aufs Neue nach Gleichgewicht strebt, auch wenn vorheriges Chaos dazu unerlässlich ist, dass diese Kraft mir dabei helfen kann, so etwas wie eine innere Heimat zu finden. Auch das ist jenseits vom Verstand, ein Gefühl, nicht durchgängig präsent, eher wie ein zarter Spross, der gerade das Licht erblickt. Aber, so scheint es, kräftig genug, um Hoffnung zu verbreiten.

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Fundstück vom Wegesrand – auch Mauern sind überwindbar.

Pari

Gleichstand. Heute vor 22 Jahren trank ich zum letzten Mal Alkohol. Das entspricht annähernd der Zeitspanne, in der ich konsumiert habe, wenn ich den Beginn auf dem 16ten Lebensjahr lege, von einigen vorherigen einzelnen Gelagen mal abgesehen.

Wir unterscheiden bei den anonymen Alkoholikern zwischen Trinkpausen, Trockenheit und Nüchternheit. Trinkpause ist selbsterklärend, Trockenheit bezeichnet dauerhafte Abstinenz, Nüchternheit meint Trockenheit plus tiefgreifenden inneren Wandel, Friede mit der Vergangenheit, Vertrauen auf Gott, Skepsis dem eigenen Ego, den eigenen Emotionen gegenüber, beides Bereiche, die laut Pfarrer Kappes krank sein können und bei süchtigen Menschen auch sind – im Gegensatz zu unserer unsterblichen Seele, unser Selbst, wie Kappes sagt.

Wo stehe ich? Ich bin auf dem Weg, der zu werden, der ich Gottes Willen nach gedacht bin. Was den eigenen Willen nicht ausschließt, wer möchte schon „willenlos“ sein? Für mich ist es existenziell wichtig, Gottes Willen als den eben größeren anzusehen. Immer wieder um tägliche Führung bitten, mich führen zu lassen. Das gleicht einer abenteuerlichen Reise, mal Angst-besetzt, da wo das Vertrauen (noch) nicht reicht, mal zuversichtlich, meist aber als spannend empfunden. Langweilig wurde mir in den vergangenen 22 Jahren jedenfalls noch nie 😉 Wie wichtig Vertrauen ist, zeigen gerade diese Zeiten immer wieder neu. Richtung und Weg stimmen, wofür ich dankbar bin.

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Grundbedürfnisse & Mangel

Eigentlich – beschreibt, wie etwas sein sollte, aber nicht ist. Eigentlich ist es für die meisten Menschen selbstverständlich, auf sich zu achten, auf die psychische und physische Befindlichkeit. Für mich als suchtkranker Mensch ist es dies nicht. Wenn ich den Motor meiner Suchterkrankung beschreiben soll, fallen mir spontan zwei Begriffe ein: Flucht und Mangel. Flucht vor mir selbst, mich mir selbst nicht stellen wollen sowie Mangel an (Selbst-) Liebe, Eigenverantwortung, Fürsorge für mich selbst. Was keinen Widerspruch zu meinem maßlosen süchtigen Verhalten darstellt: Ein Fass ohne Boden wird niemals gefüllt.

Den inneren Mangel zu befrieden, meine Seele zu füllen mit Frieden, Vertrauen und Zuversicht, das ist ein Prozess, der lebenslang andauert. Heute glaube ich den Worten der AA-Freunde – die Dauer sei mindestens ebenso lang wie die aktive, süchtige Zeit. Sie wussten um elementare Zusammenhänge zwischen Körper und Seele, gut in Erinnerung geblieben ist mir dieser Halbsatz:

Nicht hungrig, nicht durstig, nicht müde.

Äußerer Mangel – in meiner aktiven Zeit achtete ich in keiner Weise auf mich. Ich aß zu wenig und meist wenig Nahrhaftes, trank – schon klar, was, und schlief zu wenig und zu schlecht. Hygiene und äußeren Erscheinung waren oft dem entsprechend. Trocken und clean fing ich genau hier an, auf mich zu achten. Neben geistiger Nahrung, in meinem Fall alle verfügbare AA-Literatur, aber auch weit darüber hinaus, fing ich an, auf meine Grundbedürfnisse zu achten. Lernte kochen, lernte Neugier zu leben, lernte, wieder Struktur in meine Tage zu bekommen. Für mich zu sorgen eben, was soziale Kontakte mit einschließt. Einsamkeit (nicht allein-sein) ist auch ein Mangel, den ich, wenn ich wirklich möchte, relativ leicht beheben kann.

Warum bewegt mich all das, sollte doch schon längst selbstverständlich sein, meint der innere Kritiker. Ist es aber nicht immer. Mal fällt es mir einfach nicht auf, wie müde ich wirklich bin, mache einfach weiter und wundere mich dann über meine Gereiztheit und meine Aggressionen. Dann kann ich mich wunderbar empören, Anlässe gibt es in dieser Zeit mehr als reichlich. Oder ich werde schlicht krank am Körper, siehe neulich. Mangel hat viele Gesichter. Bei der fälligen Innenschau, der nach Möglichkeit täglichen Inventur sowie im Austausch mit anderen Betroffenen werde ich wieder an die kurzen, knappen vermeintlichen Binsenweisheiten erinnert, siehe oben.

Eigentlich ist es so einfach – eigentlich eben.

Bild von Markus Grolik aus dem Buch „Therapeutische Cartoons“ (Holzbaum Verlag): www.komischekuenste.com/shop/therapeutische-cartoons
(Werbung, unbezahlt)

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Gedanken zur Zeit

Wasser – für mich hauptsächlich Lebenselixier und ein Metapher-taugliches Element, bis dahin. Als Gefahr habe ich es in der Vergangenheit eher am Rande wahrgenommen, lebe ich doch auf einem Berg und hatte nicht viel mit den Schattenseiten vom Wasser zu tun, von diversen Kleinigkeiten wie ein vollgelaufener Keller und eine verstopfte Dachrinne mit entsprechenden Folgen in unserer Wohnung mal abgesehen. Das, was ich derzeit in den von Hochwasser betroffenen Gebieten sehe, macht mich fassungslos, wie so viele andere Menschen auch. Es wird sich etwas ändern müssen, nur nicht in dem Tempo, wie es die derzeitige allgemeine Betroffenheit am liebsten hätte, was ich nur zu gut mitfühlen kann, geht mir das Schicksal der Menschen in den vom Hochwasser verwüsteten Gebieten ebenso nahe.

Wer seinen Blick weiter schweifen lässt, weiß, dass tiefe Betroffenheit kein guter Ratgeber sein muss, oft genug eben nicht ist. Dogmatisch angetriebene Entscheidungen in Sachen Verkehrs- und Energiepolitik um den Preis von schweren, letztendlich staatsgefährdenden sozialen Verwerfungen dürfen nicht der Weg sein. Lohn und Brot, ein Auskommen für alle haben oberste Priorität, für mich, des inneren Friedens Willen. Die politische Kunst der nächsten Jahrzehnte wird sein, dieses Grundbedürfnis mit den Herausforderungen des auch von uns Menschen gemachten Klimawandels zusammen gehen zu lassen. Wege und Ansätze gibt es viele, ich bin sehr gespannt, wie es weiter geht. Zum Schluss noch ein Wort an den Kanzlerkandidaten der Union, Armin Laschet: Einfühlsamkeit angesichts zahlreicher Menschenopfer geht anders, nicht mit solchen Worten, auch wenn Sie im Kern nicht so falsch liegen. Ich habe ihren Auftritt in West3 dito gesehen…

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Genug der Politik. Der Wasser-Tiger, dieser Blog hier, namentlich inspiriert von meinem Geburtsjahr, 1962 – in letzter Zeit ist es still geworden, schreibe ich doch mehr oder weniger regelmäßig eher auf der Wupperpostille. Weiter machen? Manchmal denke ich, es reicht mit einem Blog, es braucht ihn nicht mehr, den Wassertiger. Mal sehen, für`s Erste lass ich es so weiter laufen, auch wenn sich zumeist nur Bots für die Ecke hier zu interessieren scheinen. Zumindest die arithmetische Erfüllung des chinesischen 60-Jahre-Zyklus im nächsten Jahr, dito einem Jahr des Wassertigers, soll er mit erleben.

Immerhin bietet diese Nische hier Gelegenheit, mal die Gedanken zu sammeln und passende Worte, idealerweise in ganzen Sätzen für die momentane Gefühlslage zu finden, etwas abseits der schreibenden Community. Stichworte gibt es reichlich. Familie, Gesellschaft & Politik, Idealismus, Pragmatismus, Polarisierung, Leben mit Widersprüchen, mit Zwiespalt. Gesellschaft und Politik hatte ich schon, siehe oben, das soll reichen, für heute.

Familie – mein Verhältnis zu dieser kleinsten Form von Gemeinschaft ist zwiegespalten, wie so vieles in meinem Leben, das von Polaritäten und Widersprüchen geprägt wurde und wird. Einerseits bin ich erschüttert, wenn ich am Beispiel meiner Eltern sehe, was alt werden, sehr alt werden bedeuten kann, nicht nur gesundheitlich, auch mit Blick auf den Umgang miteinander, mit Wesensveränderungen im Alter oder besser die teils heftigen Verstärkungen und Kristallisationen schon immer vorhandener Charaktereigenschaften und Neigungen. Ein Buchzitat dazu fand neulich den Weg zu mir, das ich sehr passend finde:

„Wenn wir ein gewisses Alter überschritten haben, werfen die Seele des Kindes, das wir gewesen, und die Seelen der Toten, aus denen wir hervorgegangen sind, mit vollen Händen ihre Schätze und ihren bösen Zauber auf uns und verlangen, dass sie zu ihrem Teil an den neuen Gefühlen mitwirken können, die wir empfinden und in denen wir sie, nachdem wir ihr altes Bild ausgelöscht haben, in einer neuen Schöpfung wieder zusammenschmelzen.“

Marcel Proust – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit/ Die Gefangene 
Danke für den Buchtipp, liebe G. 😉

Auf der anderen Seite sehe ich mit Freude, wie mein großes Kind seinen Weg geht, wie meine Anverwandtschaft dabei ist, mit vielen Kindern liebevoll eigene Ableger der großen Sippe zu bilden. Ich habe keine Angst mehr, meinen Vater all zu ähnlich zu werden, was den Umgang mit dem anderen Geschlecht angeht, damit habe ich bereits abgeschlossen, zum Leidwesen meiner ersten Frau. Auch in Sachen Vertrauen bin ich zu lange schon auf einem guten Weg, dass ich noch Angst haben müsste, ihm ähnlicher zu sein, als mir lieb ist. Auch kann ich die ebenso vorhandenen positiven Seiten meiner „familiären Sozialisierung“ heute durchaus erkennen und annehmen, für all das bin ich meinem Schöpfer sehr dankbar.

Zwiespalt auch an anderen Stellen in meinem Leben: Idealismus vs. Pragmatismus, vs. realistischer Einschätzungen der Gegenwart, oder besser dem, was ich dafür halte. So halte ich mich einerseits für einem gefühlsbetonten, potentiell mitfühlenden Menschen, der allerdings ebenso mit ordentlichen Portionen Ego & Überlebenswillen ausgestattet worden ist, kombiniert mit einer manchmal selbst für mich schwer erträglichen inneren Kälte & Distanz mit Blick auf manche menschliche Interaktionen, auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Dazu gehört die stete Gefahr des Abgleitens in Sarkasmus, was ich gelegentlich auch zulasse und kultiviere, wovor ich mich hüte, ist blanker, menschenverachtender Zynismus, zu dem ich ebenso fähig bin. Das Bindeglied zwischen all diesen Facetten ist mein Glaube, der mich nicht nur in die Lage versetzt, all diese inneren Widersprüche zu erkennen, anzunehmen und zu (er-)tragen, sondern der mich auch verweilen lässt, in der Gegenwart, wie immer sie auch gerade geartet ist. Flucht bedeutet für mich immer Morpheus`sche Traumwelten, die ich mir nicht mehr leisten will. Bis heute und nur für heute funktioniert das seit vielen Jahren recht gut, das wahrscheinlich größte Geschenk des Universums für mich.

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Lange her

Der Winter ist eine reizarme Zeit, im Lockdown erst recht. Die Zahl der Menschen, denen man willentlich in freundschaftlicher Absicht begegnen möchte, ist, vorsichtig formuliert, überschaubar. Was liegt also näher als mal zurück zu schauen, bevor manche Bilder gänzlich im gedanklichen Nirvana verschwinden. Na dann.

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1983, zwischen den Feiertagen am Jahresende.

Gerade 21 Jahre jung, bestand mein Lebenszweck aus hemmungslosen Besäufnissen, mein spiritueller Mittelpunkt waren kleine Plastiktütchen mit Gras, kombiniert mit Portwein, vorzugsweise, wenn ich ihn mir leisten konnte. Meine Gesellschaft war dem entsprechend, Gleiches findet immer Gleiches. Jochen zum Beispiel. Den kannte ich von der Arbeit, er lag in den letzten Zügen seiner Ausbildung in der Werkstatt, wo ich meine ersten Berufserfahrungen sammeln sollte.

Jochen hatte Verwandtschaft an der damaligen Zonengrenze, ein Dorf irgendwo bei Lüchow-Dannenberg, dem Ende unserer westgermanischen Welt. Onkel und Tante, glaube ich, und laut Jochen trinkfeste sowie gastfreundliche Menschen. Das klang gut. Knapp 400 Km vom Tal der Wupper entfernt, lag unser Reiseziel nicht nur geographisch um Lichtjahre weiter von uns fort als zum Beispiel die Niederlande, das gelobte Land in unserer jugendlichen Vorstellung. Ich war sofort begeistert, als die Rede auf einem möglichen Besuch kam. Besäufnisse in fremden, aber vertrauenswürdigen Gefilden, verbunden mit neuen Eindrücken und potentiell freundlichen Menschen – genau richtig zur Einstimmung auf den anstehenden Jahreswechsel. Blieb die Frage nach dem Vehikel der Wahl, um die große Fahrt zu bewerkstelligen. Auto fahren war jedem von uns immer extrem wichtig, schnell hin und schnell weg, darauf kam es an. Mein damaliges Gefährt bestand aus einem Rost-zerfressenen Opel Rekord D – Caravan, Jochen fuhr einen uralten Fiat 500 und bestand darauf, mit seinem Auto fahren zu wollen.

Zwei Helden auf Reisen, es war eisig kalt, ein ekliger Ostwind mit reichlich Frost war unser Begleiter. Der Fiat hatte keine Heizung, nur ein Faust-großes Loch neben dem Schaltknüppel, aus dem ein Hauch von Wärme strömte. Abwechselnd steckten wir die klammen Hände dort hinein, so gut es ging. Unser Outfit passte zum Gefährt, Jochen trug seinen Gestapo-Mantel und ich meine Holzfäller-Jacke mit Brandlöchern. Der Fiat machte gerade 80 Sachen, immer schön rechts und ausnahmslos jeder LKW überholte uns mit teils freundlichem Gehupe. Die Karre war damals schon Kult … Andere Reisende waren da skeptischer, manch verantwortungsbewusster Familienvorstand samt Anhang starrten beim vorbeifahren mit einem Blick zu uns herunter wie unsereins den Füllstand einer Mülltonne begutachtet. Wir liebten dieses Gefühl und hatten beide den unwiderstehlichen Drang, den nackten Arsch an`s Fenster zu pappen. Dagegen sprachen die Kälte und die Fahrsicherheit, also verwarfen wir die nette Geste, war vielleicht auch besser so. Unser beider damaliges Lebensgefühl spiegelte sich im Musikgeschmack – Punk zum wach werden und Reggea zum herunter kommen, mehr brauchte es nicht. Ein abgerocktes Cassettendeck im Fiat tat sein bestes, uns zu unterhalten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit und diversen Tankstopps kamen wir endlich an und wurden mit großen Hallo begrüßt. Ein Dorf wie es sein soll, einige Gehöfte, ein paar Einfamilienhäuser, kein Laden, keine Kirche, nichts, aber eine Kneipe samt jeder Menge Gegend drum herum. Unsere Gastgeber hatten dito einen großen Hof, wir schoben den Fiat mit vereinten Kräften in den Kuhstall, wegen der Kälte. Der Anlasser war übrigens im Sack, das Teil musste angeschoben werden, darin hatte auch ich schon Übung, von den Pausen an den Tankstellen. So ein wenig Wärme konnte der Heimreise also nur förderlich sein.

Die Tage waren ausgesprochen angenehm, bestanden sie doch für uns eigentlich nur aus dem damals Wesentlichen. Lecker essen, Zocken, saufen und lange ruhen. Zocken ging klar, wir hatten eine gewisse Routine darin. Jochens Bude im Tal der Wupper war ein genialer Treff zum pokern. Zwei Zimmer unter`m Dach, Altbau, eines hatte der Berglage geschuldet ein Stirngiebelfensterchen, für Jochen der Zugang zum Dach des Nachbarhauses, auf dem man sich dank Südlage trefflich sonnen konnte. Und diskret Gras anbauen. Ansonsten bestand das Interieur aus einer Matratze, einem Fernseher, einem wackeligen Holztisch samt passenden Gestühl zum zocken, einer verbeulten Schirmlampe und einem riesigen geklauten Hohlspiegel von der Straße.

Auf dem Hof waren wir allabendlich mit Rommé statt Poker beschäftigt, so richtig derbe, mit allen Regeln und unter stimmgewaltigen emotionalen Ausbrüchen, getragen vom Dunst der Geschwister Braun und Weiß. Da man ja nicht nur zocken kann, bestand unser Gastgeber darauf, uns am Tage die Gegend zu zeigen. Das gestaltete sich ein wenig abenteuerlich, war doch sein Führerschein gerade verlustig. Zuviel vom Braunen irgendwann. Es gab nur Braun oder Weiß, Bier eher sekundär, zum Durst löschen für den Sommer. Also jetzt nur wenig. Der Mann wusste sich aber zu helfen, dank der zahlreichen Feldwege entlang seiner Ländereien. Sein Auto – ein abgemeldeter VW Variant 1600, so ein Modell, mit dem mein Vater vor damals schon gut 12 Jahren seinen ersten Wohnwagen zog. Das Gefährt musste also für Sightseeing herhalten, die verreckten Stoßdämpfer in Kombi mit der Beschaffenheit der Feldwege waren der Befindlichkeit unserer Mägen nicht förderlich, die noch mit dem Inhalten des letzten Abends beschäftigt waren. Aber – wir lernten Land und ein wenig Leute kennen, wenn auch mit käsigem Gesichtsausdruck.

Der letzte Abend sollte alle vorhergehenden übertreffen, es galt Abschied zu feiern, darin waren sich alle einig. Also wurde Karten gespielt, was das Zeug hielt, mit peinlich genauem aufschreiben, soweit Braun und Weiß das noch zuließen.. Der Höhepunkt des Abends fand dann in der Kneipe statt, wo sich der erzockte Punktestand in weiteren braun-weißen Getränken auflöste. Die Stimmung war unbeschreiblich, mit viel Tanz, Musik, Gelächter, alkoholischen Verbrüder- und Verschwesterungen. Irgendwann zog ich mich mit einer ebenso abgefüllten Dame aus dem Dorf in die Gemächer zurück, gefüllt nicht nur mit Weiß- Braunen, der alles folgende unkompliziert erscheinen ließ, sondern auch mit der Sehnsucht nach ein wenig menschlicher Wärme. Eine mögliche schriftliche Fixierung des Restes der Nacht ist verständlicher Weise nicht für die Öffentlichkeit geeignet.

Der Abreisetag. Es war immer noch saukalt, wir schoben den Kleinen aus dem Kuhstall, nachdem wir ihn erstmal von einer guten Schicht Stroh aus dem Dachgeschoß befreit hatten. Wir verabschiedeten uns herzlich, versicherten, uns baldmöglichst wieder sehen zu lassen und bekamen freundliche Hilfe beim anschieben. Die Rückfahrt war im Grunde ein Abbild der Anreise, nur eben in die andere Richtung und eher schweigsam, da gemeinschaftlich schwer verkatert.

Anfang Januar 1984, in einer Arztpraxis der Wahl. Es juckt, sage ich. Wo, fragt der Arzt. Innen, außen, und vor allem unten, versuche ich mit rotem Gesicht eine Beschreibung meiner Unpässlichkeit. Antimykotikum, sagt der Arzt nach näherer Inaugenscheinnahme der beschriebenen Körperzonen. Zum einnehmen und einreiben. Und grüßen Sie mir die Dame…

Es gibt eigentlich nur eine Erklärung für diese Tage:
Ich war 21 ….

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Epilog: 21 & zocken, da gab es mal einen guten Film.

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Wie geht es weiter mit der Selbsthilfe?

Wie geht es weiter mit der Gemeinschaft der anonymen Alkoholiker, denen ich mich seit über 20 Jahren trocken und dankbar verbunden fühle? Mittlerweile sind unsere Zusammenkünfte wieder gestattet, mit einer Menge Auflagen des Gesundheitsamtes NRW, die Selbsthilfe allgemein betreffend,  die unsere Prinzipien und Traditionen teils komplett auf den Kopf stellen. Die Gemeinschaft der anonymen Alkoholiker (in der RG01) selbst hat dazu ebenfalls ein Schreiben verfasst, welches sich auf die Vorgaben des Landes bezieht. Darin ist unter anderen die Rede von den auch anderswo üblichen Schutzmaßnahmen vor Ansteckung wie Mindestabstand und der daraus resultierenden Teilnehmerzahl-Begrenzung, Maskenpflicht, Aufhebung der Anonymität durch Teilnehmerlisten mit Vorname und Telefonnummer, Bewirtungsverbot, permanente Belüftung, abschließende Desinfektion und so weiter.

Zunächst einmal ist es mehr als fraglich, ob die Gemeinde, welche uns die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hat, überhaupt unter diesen Vorgaben weiter bereit dazu ist. Meine persönliche Haltung ist eher skeptisch ob der Durchführbarkeit des Ganzen. Für mich als einer der Sprecher unserer Gruppe hat das alles auch etwas mit Verantwortung zu tun, die ich nicht übernehmen will und kann. Eine Menge Fragen tauchen auf, zum Beispiel die Teilnehmerzahlbegrenzung betreffend. AA war und ist für mich offen für jeden, der den Wunsch hat, mit dem Trinken aufzuhören und ich werde niemals einem die Tür weisen oder Diskussionen führen wollen, wer anstelle dem Neuen jetzt den Raum verlässt. Auch das Hinterlassen persönlicher Daten, was der Anonymität komplett zuwider läuft,  lehne ich ab (Aus diesem Grund weigere ich mich auch, Gaststätten zu besuchen).

Denke deine Gedanken zu Ende – das waren einst die Worte eines alten, mittlerweile schon lange verstorbenen Freundes meiner ersten trockenen Wochen. Wenn ich das konsequent mache (ok, meine Phantasie ist lebhaft), kann ich mir z.B. folgendes Szenario vorstellen. Einer aus der Gruppe erkrankt, angesteckt wo und wie auch immer. Im Zuge der Nachverfolgung von Infektionsketten taucht meine Telefonnummer und somit meine kompletten persönlichen Daten beim örtlichen Gesundheitsamt auf. Da geht es laut den Schreiben auch um Haftung, um Bußgelder bei eventueller Nichteinhaltung der Vorgaben. In allen derzeit kursierenden offiziellen Schreiben ist diesbezüglich von „Kontrollen“, von Bußgeldern sowohl für den Vermieter (oft, wie auch bei uns die Gemeinde) als auch den Mieter der Räumlichkeiten, also die Gemeinschaft der AA die Rede. Diese „funktioniert“ anarchisch, alle Fragen innerhalb einer Gruppe werden per Abstimmung entschieden, das Gesundheitsamt dagegen braucht einen Verantwortlichen – was liegt näher als der Gruppensprecher. Und – es könnte Quarantäne folgen, am Ende Besuchsverbot bei meinen greisen Eltern, bis hin zu Schließung von unseren Arbeitsstätten im Infektionsfall. Natürlich kann ein solches Szenario auch anderweitig eintreten, anstecken kann man sich immer, sobald man das Haus verlässt. Dennoch – zumindest derzeit bin ich nicht bereit, unter diesen gegebenen Bedingungen bei einem persönlichen Meeting mitzumachen, so bitter mir das auch ankommt.

Da ich nicht damit rechne, dass sich die Voraussetzungen kurz- oder mittelfristig ändern werden, muss ich davon ausgehen, dass auf Monate (meiner Einschätzung nach bis weit in das nächste Jahr hinein) mehrere Jahre kein reguläres Meeting unter (für mich) annehmbaren Bedingungen mehr möglich sein wird. Es bleiben nur die virtuellen Meetings und die (private) Begegnung mit den Freunden, persönlich oder über die gängigen Kommunikationskanäle. Headset und Webcam sind jedenfalls geordert  mittlerweile vorhanden… mir tut es nur für all jene leid, die in der Gegenwart noch keinen Weg in die Trockenheit gefunden haben und unter diesen harten Bedingungen Wege finden müssen.

Update – 24 Juli 2020

Nach einem mir vorliegenden Schreiben gibt es neue Regeln für „offizielle“ Präsenz-Meetings (NRW): Teilnahme nur nach Anmeldung (?). Bekanntgabe des vollständigen Namens und der Adresse. In der Praxis reicht dem Vernehmen nach vielerorts (noch) die Angabe des Vornamens sowie einer Telefonnummer. Die neuen Vorgaben dienen vermutlich dazu, den Gesundheitsämtern die verwaltungstechnisch umständliche „Entschlüsselung“ der Metadaten jedes Teilnehmers über die Mobilnummer zu ersparen. Wer unter diesen Bedingungen ein Präsenz-Meeting aufsucht, muss wissen was er tut. Mich bestärkt das in meiner Entscheidung, den offiziellen Präsenz-Meetings bis auf weiteres fernzubleiben.

Update – 17.Oktober 2020

Mit der Zeit komme ich zu einigen für mich sehr interessanten Erkenntnissen:

  • Es geht mir auch ohne Gruppe gut, meinem Glauben sei Dank. Die üblichen Schwankungen, denen alle Menschen ausgesetzt sind, inbegriffen. Teilen und weitergeben ist mir immer noch wichtig, aber weniger aus einem persönlichen Bedürfnis, aus eigener Not heraus, mehr mit der Hoffnung verbunden, anderen Mut zu machen, ihren Weg weiter zu gehen.
  • Ich bin und bleibe ein süchtiger Mensch, der nur durch Gottes Gnade im Leben so etwas wie Halt gefunden hat.
  • Es fühlt sich so an, als ob nun das Gelernte der letzten 20 Jahre auf seine Ernsthaftigkeit, seine Tragfähigkeit hin geprüft wird.
  • Konspirative Freundschaftstreffen (inoffizielle Meetings) in ominösen Hinterhöfen, ohne Bekanntgabe meiner persönlichen Daten, haben auch ihren gelegentlichen Reiz. Natürlich immer unter Einhaltung der Schutzmaßnahmen wie Abstand und Maske. Und – was in den oft sehr vertrauensvollen Runden echt schwer fällt – niemanden drücken oder herzen. Auch interessant – früher konnte ich das nicht, heute fehlt es mir.
  • AA ist in erster Linie eine Zweckgemeinschaft, wer sich abwendet, existiert für die meisten anderen nicht mehr wirklich. Oder aber mein persönlicher Zuschnitt, meine gelegentliche Impulsivität, Arroganz, Distanz, verhinderte tiefere Bindungen über die Jahre. Wahrscheinlich ein Mix aus beiden.
  • Die gewonnene „freie“ Zeit kommt mir sehr gelegen, mit Blick auf familiäre Verpflichtungen.

Update – 30. Juli 2021

Nach wie vor fühle ich mich derzeit keiner Gruppe zugehörig, suche auch nicht den regelmäßigen Kontakt zu Live-Meetings, obgleich mittlerweile vollständig geimpft. Dennoch bin ich getragen von meinem Glauben und von der Arbeit in den 12 Schritten. Der Rückzug führt zu mehr Ernsthaftigkeit, meine tägliche Inventur betreffend. Auch in Schriftform findet Austausch mit anderen Betroffenen statt, privat oder in geschlossenen Gruppen.

Und – seit Beginn der Pandemie bin ich sehr viel zu Fuß unterwegs. Erkunde hier im nächsten Umfeld Ecken und Lagen, die mit Auto oder Rad nicht zu erreichen sind. Gehen hat etwas meditatives, meine Runden reichen nicht selten an die 10, 12 Km heran. Dabei spüre ich mit jedem Schritt, wie mein Geist ruhiger wird, sich zunehmend leert. Fühlt sich sehr gut an.

Update – 9. Januar 2022

Im neuen Jahr werde ich der Gemeinschaft der AA wieder etwas näher kommen. So habe ich mich entschieden, an dem wieder aufgenommenen Literatur-Meeting meiner damaligen Stammgruppe gestalterisch und persönlich teilzunehmen, jeden ersten Samstag im Monat. Das passt auch zeitlich, ich freue mich drauf. Futter für die Seele, gemeinsam zu gelesen und anschließend darüber teilen.

Update – 5. Februar 2022

Heute ist Neustart unseres „spirituellen“ Meetings, ein Themen-gebundenes Literatur-Meeting. Themen Heute sind analog zum zweiten Monat des Jahres die Ausführungen von Pfarrer Heinz Kappes zum zweiten Schritt der AA: Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. Wir lesen ca. 20 Minuten und teilen dann gemeinsam.

Update – 15 Januar 2023

Das Literatur-Meeting ist Geschichte, mangels Interesse. Dem Vernehmen nach gibt es eine Alternative, in der hiesigen Mittwochsgruppe (kommt aus Zeitgründen für mich leider nicht in Frage) Die AA-Literatur scheint aus der Zeit gefallen zu sein, dann ist das jetzt so. Persönlich hat mir die Arbeit mit den Reden von Heinz Kappes unglaublich viel gegeben und viele seiner Aussagen tragen mich bis heute.

Solange ich denken kann, verstand ich nie die Kleinteiligkeit und Widersprüchlichkeit des Glaubens unter uns Menschen und fand jeden Ansatz einer, wenn man so möchte, einfachen Universal-Religion höchst spannend. Heinz Kappes gilt als literarischer Vater der AA-Literatur hier in Deutschland, war er doch nicht nur evangelischer Jugendpfarrer (bis 1933), sondern nach 1945 auch ein überaus fleißiger Übersetzer der amerikanischen A-Gruppen-Literatur. Was er nie groß zum Thema gemacht hat, was ihm auch einige Diskussionen innerhalb der evangelischen „Amtskirche“ eingebracht haben dürfte – er stand auch den so genannten „Quäkern“ nahe, die, obgleich im Schwerpunkt christlich, sich spirituell aus allen Töpfen bedienen. Was sich auch in dem Leben von Heinz Kappes widerspiegelte, der als deutscher Emigrant 14 Jahre in Israel lebte, damals noch unter britischen Protektorat. Der Heinz Kappes, der als Christ Meditation und Yoga praktizierte, viele ferne Länder bereiste.

Halte es einfach, heißt es. Die alten Schriften sagen nicht anderes und ich bin dankbar, so vieles davon für mich persönlich verwenden zu können.

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Deutschsprachiges Ländertreffen der AA

Koblenz war sozusagen ausgebucht, bis auf wenige extrem teure Hotelzimmer. Also haben wir uns zu sieben Freunden aus unserer Gruppe zwei kleine Wohnungen angemietet. Hoch oben im Ferienpark Oberlahnstein, ein Hochhaus, und dort die achte Etage. Für mich war es ein Wagnis, als ein nach eigener Einschätzung ein wenig eigenbrötlerischer Höhlenbewohner, das dichte zusammenleben mit drei anderen Menschen, die mir zwar über viele Jahre schon vertraut sind – seine ganz persönlichen Eigenheiten kennt man ja doch nur andeutungsweise. Wie sich herausstellte, ging mir das nicht allein so, aber am Ende waren wir uns einig, gerne noch einmal in dieser Konstellation zu verreisen, sollte sich die Gelegenheit bieten.

Die Tage waren gefüllt mit zeitigem aufstehen und bewegenden Meeting-Besuchen. Dazwischen haben wir uns genügend Zeit genommen, das Gehörte setzen zu lassen und auch ein wenig von Koblenz zu sehen. Das muss trotz des großen und sehr interessanten Angebotes an themenbezogenen Meetings sein, weil sonst die vielen Eindrücke einfach nicht mehr verarbeitet werden können. Es war bewegend – bis zu diesem unbeschreiblichen Gefühl beim Abschlussmeeting, gemeinsam mit gut 3000 Menschen das Gelassenheitsgebet  zu sprechen.

So ein verlängertes Wochenende gibt mir schon neuen Anschub für meine Gruppenbesuche und auch für die freiwilligen, kleinen Dienste dort. In den Gruppen finde ich meine Basis, die Trocken- bzw. Nüchternheit, ohne die ich vermutlich nicht mehr leben würde und falls doch, nicht die geringste Chance hätte, irgend etwas verändern zu dürfen, mit mir. Zumindest nicht zum Guten hin.

Hier noch ein paar Bilder von gestern Morgen, aufgenommen innerhalb vielleicht einer Stunde. Man kann dort oben nicht nur kommende Wetterwechsel sehr schön sehen, man ist sozusagen schnell auch Teil davon – manchmal mitten in einer Wolke.

Noch keine halb sechs Uhr in der Frühe.

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Dann so im Viertelstunden-Takt …

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Der Regen kommt …

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… und die Wolken …

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… um kurz darauf wieder den Blick freizugeben.

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Ach ja – meine Büchse mit ausgezeichnetem grünen Tee habe ich leider vergessen. Bleibt zu wünschen, dass die jemand findet, der solcherart auch zu schätzen weiß 🙂

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Zeitreisen

Jemand spricht und ich sehe mich vor 5,15, 20, 30, oder 40 Jahren. Ein kurzer Anflug der Gefühle dieser Zeiten überfällt mich, Bilder steigen auf und verschwinden wieder. Sie klebt nicht, diese Erinnerung. Sie ist intensiv, aber flüchtig. Immer wieder dominiert die Gegenwart, was ich sehr beruhigend finde. Irgendwann spreche ich, wie ich es gewohnt bin in diesem Kreis. Von mir, von den eben aufgestiegenen Bildern und Erinnerungen, was wiederum dazu führen kann, dass mancher denkt, was spricht der nun von mir… So tun sich Parallelen auf, die uns verbinden, uns in den Pausen in den Arm nehmen lassen, uns das Gefühl geben, ausgewachsene Glückskinder zu sein, allen Herausforderungen des Lebens zum Trotze.

Erfahrung, Kraft, und Hoffnung teilen.
Eines von vielen Meetings.

Wenn ich still bin, bei mir und nicht vom Tagesgeschäft gefesselt, dann bekomme ich eine Ahnung, wie es einst ausschauen könnte, mein Leben. Mit dieser meiner Vergangenheit und Gegenwart. Mit diesen immer wiederkehrenden Bildern und Gefühlen, die nicht mehr ihre Macht besitzen, aber unauslöschbar zu mir gehören. Spannend daran ist allein die Frage, was ich in meinen täglichen Fristverlängerungen noch alles loslassen, reduzieren oder umwandeln darf. Tun, was ich kann, egal wo. So gehe ich jagen und sammeln und so schaue ich meine Abgründe, um nicht hinein zu fallen und um Brücken zu bauen.

Wünsche hätte ich so einige, aber da das Leben dazu neigt, bei manchen Wünschen nur leise zu kichern, bleibe ich dort, wo ich bin und mache das beste aus dem Tag. Eines wird mir immer klarer: Die Zeit läuft und das tägliche Klein-Klein ist es immer weniger wert, mich zu empören. Was mich nicht daran hindert, es gelegentlich wieder zu versuchen … um mich gleich darauf wieder einmal selbst zu fragen, ob es das nun wirklich wert war. In grob geschätzt drei von vier Fällen war es das eher nicht, im Nachgang betrachtet.

In dem Zusammenhang ist es für meine dunkle, bergische Grübler-Seele eine große Herausforderung, mir das Lachen zu bewahren, ohne in bitteren Sarkasmus oder gar Zynismus abzugleiten. Die Versuchung ist riesig, beim Anblick mancher Menschen braucht es keine Karikaturisten, vielleicht einen guten Fotografen oder einen guten Zeichner. Hilfreich ist es dann, mich an das andere Ende zu stellen, um zu spüren, was manch leise ätzende Rede wohl so alles anrichtet. Sagt der kleine Mann im Ohr dann immer noch „Ja“, kann es losgehen – wohl bekommt`s, hüben wie drüben. In der Königsklasse dieser Kunst gelingt es mir, Grenzen und Contenance zu wahren sowie der Versuchung, in Arroganz zu fallen, die Stirn zu bieten.

Der rote Faden jetzt und hier, in diesen Zeilen? So genau weiß ich das auch nicht, vielleicht gibt es keinen. Muss es auch nicht immer.

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Ansichten eines Clowns

So von uns als gelungene Theater-Aufführung gesehen, gestern Abend im Schauspiel Köln, nach dem bekannten Roman von Heinrich Böll. Das Buch habe und kenne ich schon seit über 30 Jahren, zusammen mit allen anderen Büchern von Böll, die ich bekommen konnte. Er hat mir als junger Mann schon geholfen, die Welt meiner Eltern besser zu verstehen, mich in ihre Zeit hinein zu finden.

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Dieses Buch hat mich immer schon endlos traurig gemacht, und so ging es mir auch gestern Abend. Das hat hierbei nicht mit der Bigotterie der Nachkriegszeit zu tun, die im krassen Gegensatz zu dem „tausendjährigem Reich“ stand. Auch nicht mit der wundersamen Demokratisierung quasi über Nacht, die doch nur ein hauchzartes, fadenscheiniges Mäntelchen war und in Teilen immer noch ist.

Es ist das festhängen in irgendwelchen Dogmen, in Lebensbildern, projizierten Mustern, übergestülpten Lebensformen, die verhindern, zum wirklichen eigenem Wesenskern, zum eigenen Glück zu finden. Dazu gehört das ständige zitieren von irgendwelchen Phrasen und Stereotypen, die dem Ganzen seine Rechtfertigung geben sollen, dieses unselige Gebräu als Normalität im Sinne von „das macht man so“ verkaufen soll. 

Möchtegern-Majoritäten, Leit(d)kultur, Führungsanspruch.

Was hat all das mit mir zu tun, warum bewegt mich das so ? Es ist die Erinnerung an die „Vater-Worte“, die mir einst um die Ohren gehauen wurden. Worte, die er seinerseits als Kind hörte und in ihrer Tragweite nicht wirklich erfassen konnte (meine Eltern waren bei Kriegsende gerade 10 bzw. 11 Jahre jung). Worte, die er als Krücke für sich selbst nutzte, um irgendeinen Halt zu finden, nach gestohlener Kindheit und den Entbehrungen der Nachkriegsjahre. Worte, die mich ihn hassen lehrten, als Kind. Worte, die für Beschränkung und Zwang ebenso stehen können wie für Tugend, sofern sie dann nicht für sich allein stehen.

Prrreußische Orrrdnung und Sauberrrkeit.
Anstand und Disziplin.
Gesunderrr Körrrper, gesunderrr Geist.

Er konnte nicht anders.

Zum Total-Verweigerer a la Hans Schnier hat es bei mir nicht gereicht, statt dessen lief ich ihnen weg, diesen Worten. Nebenan in der Parallelwelt der synthetischen Träume war es wärmer, da war ich in scheinbarer Sicherheit, erst einmal. Es hat eine lange Weile gebraucht, in der „Realität“ leben zu können und eigene Träume haben zu dürfen.

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