Anonyme Alkoholiker

Das, was die Gemeinschaft der anonymen Alkoholiker ausmacht, lässt sich gut hier nachlesen und bedarf allgemein keiner Wiederholung oder Ergänzung. Vielleicht ist es allerdings für die eine oder den anderen interessant, zu erfahren, wie so ein Treffen oder Meeting „funktioniert“, darum möchte ich versuchen, hier einen kleinen Eindruck davon zu geben.

Mein Name ist Reiner, ich bin Alkoholiker.

Das Wort anonym zog mich seinerzeit an, denn mein Zustand damals gereichte mir nicht zur Ehre. Ebenso die Erkenntnis, das zwei halbe Stunden ambulante Therapie im Monat nicht ausreichten, um trocken zu werden und zu bleiben. Also brauchte ich Hilfe und fand so nach einigen Zögern den Weg in eine Gruppe.

Eigentlich hatte ich überhaupt keine Vorstellung von dem, was mich erwartete, schlimmstenfalls geisterten mir irgendwelche Bilder von griesgrämigen, vor sich hin frömmelnden, ältlichen Herrschaften durch den Kopf. Um so überraschter war ich über den freundlichen, warmen Empfang, der mir zuteil wurde. Mein erster Eindruck, nachdem ich einigen zugehört hatte, war: Was die geschafft haben, kann ich auch hinbekommen. Der äußere Eindruck war widersprüchlich. Da saßen Menschen, offen, freundlich, im Leben gut angekommen, schien es. Wenn sie von ihrer Vergangenheit sprachen, offenbarten sie menschliche Abgründe, die so gar nicht zur ihrer Erscheinung passen wollten. Aber es klang aufrichtig und echt und ich glaubte ihnen.

Ein reguläres Meeting ist ein so genanntes geschlossenes Meeting, das heißt, Betroffene sind unter sich, im Gegensatz zu einem „offenen“ Meeting, an dem auch Freunde oder Angehörige teilnehmen können. Der Ablauf eines Meetings ist überall ähnlich. Ein Meeting dauert 2 Stunden, oft wird aufgrund der gängigen Rauchverbote eine kurze Pause in der Mitte eingelegt. Der Meeting-Sprecher – ist wie alle anderen, die ein „Amt“ übernommen haben, nur ein betrauter Diener ohne irgendeine Chef-Funktion. Er spricht eine Begrüßung, liest die Präambel vor, spricht organisatorisches an. Über wichtige Fragen wird immer gemeinsam abgestimmt. Zu Beginn eines Meetings werden meist die 12 Schritte gemeinsam gelesen, jemand liest im Anschluss daran einen kurzen Text als Tagesmeditation vor, bevor dann die Wortmeldungen vom Meeting-Sprecher freigegeben werden.

Niemand ist verpflichtet, zu sprechen, keiner wird dazu genötigt. Möchte sich jemand zu Wort melden, hebt er/sie die Hand, der Meeting-Sprecher notiert den Vornamen und erteilt der Reihe nach das Wort. Jeder kann prinzipiell so lange sprechen, wie er möchte, wobei der Meeting-Sprecher darauf achtet und mitunter auch zu Meetingsbeginn darauf hinweist, das aufgrund der Gruppenstärke die Zeit begrenzt ist.

Was mir persönlich von Anfang an sehr gut gefiel, es wird nicht diskutiert. Wer spricht, der hat seinen Raum und wird nicht unterbrochen. Was allerdings nicht mit einer Kette von Monologen verwechselt werden darf, der Austausch geschieht indirekt. Zwar ist jeder gehalten, bei sich zu bleiben, sich nicht im Allgemeinen zu verlieren. Da wir aber allesamt nicht so einzigartig sind, wie wir das früher einmal geglaubt haben, ähnelt sich vieles und oft schließt die Rede des Nächsten thematisch beim Vorredner an, immer aus der eigenen Erfahrung heraus. Ratschläge sind auch Schläge, heißt es und sind darum nicht gern gehört. Ein Vorteil der hintereinander folgenden Wortmeldungen liegt darin, sich bis zur eigenen Wortmeldung GEDULDEN zu müssen. Ein jeder hat somit, wenn auch zwangsläufig, Zeit zum nachdenken und nachspüren über das, was die Worte der anderen bei ihm auslösen.

Die Themen, die angesprochen werden, berühren alle nur denkbaren Lebensbereiche. Geht es zu Beginn bei Neuen oft um das pure trocken bleiben und um`s „aufräumen“ so genannter Altlasten als Folge des Trinkens, so ändern sich die Themen mit längerer Trockenheit allmählich und jeder Freundin, jedem Freund wird auf ihre/seine Weise und Zeit zunehmend bewusst, was hinter dem selbstzerstörerischen Verhalten einst gestanden hat.

Zum Ende hin wird dann noch gemeinsam das Gelassenheitsgebet gesprochen. Allerdings ist niemand verpflichtet, an irgend etwas zu glauben oder einer speziellen Religion anzugehören.

Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören.

Jede Gruppe ist anders, immer abhängig von der Art und Anzahl der Freunde, die teilnehmen. Auch ist die Gemeinschaft der AA nicht die einzigen Selbsthilfegruppe, es gibt viele andere mehr, die anders „funktionieren“. Ausprobieren ist im Zweifel immer ratsam, manch einer vermisst eben z.B die Diskussion oder eine straffe Hierarchie. Das Wichtigste ist die Erkenntnis, das es Hilfe gibt. Das Alkoholismus eine Krankheit ist, die zum Stillstand gebracht werden kann, dadurch, das ich das erste Glas stehen lasse. Immer nur für 24 Stunden, wie es bei uns heißt. Hätte ich schwören müssen, nie mehr zu saufen, ich hätte vor lauter Angst die Beine in die Hand genommen. Ein Tag ist ein überschaubarer Zeitraum, darum ist es so leichter, gerade zu Beginn.

Selbst Angetrunkene haben das Recht auf Teilnahme, sofern bei ihnen der Wille vorhanden ist, vom trinken zu lassen und sofern sie mit ihren Verhalten nicht ein Meeting unmöglich machen.

Seit ich trocken werden und bleiben durfte, änderte sich auch mein Freundes- und Bekanntenkreis gründlich. Nur zu sehr wenigen Menschen von damals besteht noch Kontakt. Heute aber weiß ich, das allein-sein kein notwendiges Übel für mich darstellt, sondern wenn dann eine bewusste Entscheidung ist. Wenn ich möchte, kann ich an jedem Tag der Woche bundesweit und auch im Ausland in jeder größeren Stadt ein Meeting besuchen, mich mit Gleichgesinnten treffen und austauschen. Eine nach Postleitzahlen geordnete Liste dazu findet sich hier

Geistige Verwandtschaft, die ich mir aussuchen kann.

~

 

17 Gedanken zu „Anonyme Alkoholiker

  1. bisou

    Das Thema ist mir nicht fremd, deshalb erlaube ich mir hier zwei Aussagen heraus zu piecksen.

    Das Gelassenheitsgebet sollte jeder Mensch irgendwo aushängen haben, es betrifft und hilft jedem.

    „Auch Ratschläge sind Schläge“ habe ich vor einigen Jahren gebloggt und es hagelte Empörung. Hier lese ich es zum ersten Mal seitdem und es freut mich.

    … warum nur wundert es mich nicht es bei dir zu lesen… 🙂

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  2. Uschi

    Mehr als normal, wenn ich einen Blog lese, habe ich jetzt bei dir verweilt.

    Aus der eigenen Erfahrung mit den AA, allerdings damals als Familienmitglied in einer offenen Gruppe,
    kamen eben viele Emotionen hoch.
    Ich weiß noch immer nicht, ob ich alles getan habe damals,
    aber eines weiß ich sicher, ich bin bis an meine eigenen belastbaren Grenzen gegangen !!!

    Das selbstzerstörerische Verhalten hat mich immer wieder beschäftigt und ich bekam ganz selten Antworten darauf …eine traurige Erkenntnis !

    Danke und einen lieben Gruß
    Uschi

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    1. Reiner

      Liebe Uschi, niemand kann dauerhaft über seine Grenzen gehen, wenn Du dort damals angelangt warst, hast Du mit Sicherheit alles getan, was Du tun konntest! Kein Betroffener lässt vom saufen durch Inspiration von außen, das treibt Angehörige immer wieder zur Verzweiflung, ich weiß.

      Süchtiges, selbstzerstörerisches Verhalten wurzelt sehr oft in einem ausgeprägten Minderwertigkeitsgefühl und mangelnden Urvertrauen. Allerdings würden sich die meisten Betroffenen eher einen Fuß abhacken, als das sich selbst, geschweige denn einem anderen Menschen gegenüber einzugestehen. Lieber wird dieses Gefühl mit allen Möglichen abgedeckt...eben auch mit Alkohol und Drogen...bis sich vielleicht irgendwann die eigene Seele nicht mehr betrügen lässt und Wandel möglich wird. Das Wissen um die vielen Menschen, die dort nicht hin gelangen können, macht mich einerseits traurig und andererseits dankbar...

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  3. QuerVerbindung

    …ich hatte vor über zehn Jahren eine Gruppentherapie in Berlin gemacht, die sich im Verfahren nach den Regeln der AA richtete und fand es sehr angenehm…die Regeln, die anfangs ungewohnt waren, wie keine Ratschläge erteilen, bei sich bleiben, nicht zu diskutieren…brachten uns einander nahe…das war eine tolle Erfahrung…ich hab sehr viel gelernt während der Zeit…

    LG Heide

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    1. Reiner

      Ja, das Wort "Alkohol" in den 12 Schritten lässt sich durch viele andere Begriffe für Stoff-gebundene und nicht stoffliche Süchte austauschen: Drogen, Emotionen, Arbeit, Glücksspiel, Sex, irgendwo in Köln soll es sogar eine Gruppe anonymer Insolventer geben. Die Wirkungsweise ist immer ähnlich, angefangen mit dem militärisch klingenden Wort "Kapitulation"...

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  4. Elke

    Wieso entdecke ich erst heute deinen Blog?
    Nun ja, alles zu seiner Zeit. Auf jeden Fall berührt mich deine Geschichte sehr.

    Sucht kenne ich gut, meine eigene, die meiner Familie, die Folgen….
    Dir erst einmal herzlichen Glückwunsch, dass du deinen Weg hinaus aus der Enge deiner Sucht gefunden hast.

    Gleich geht es hinaus in den Wald, aber ich komme wieder.

    Liebe Grüße
    Elke

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  5. San

    Lieber Reiner,

    danke für den Besuch auf meiner Seite, der mich hergeführt hat und wie Ananda bis zu dieser Stelle gebracht hat, um einen Kommentar zu hinterlassen.
    Selbst bin ich vorwiegend Wassertrinker. Dennoch ist es auch für mich als Außenstehenden spannend mal einen Einblick zu bekommen. Danke dafür.

    Liebe Grüße aus Hessen
    San

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    1. Reiner

      Schön ,das Du herein geschaut hast!
      Ich freue mich, wenn sich auch Nicht-Betroffene für die Thematik interessieren.

      Lieben Gruß zurück aus dem Tal der Wupper!

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  6. Sabine

    Hallo, ich habe dich schon bei verschiedenen Menschen erlesen, es aber erst jetzt geschafft bis hierher zu lesen, spannend bei Dir, würde gerne öfter kommen, deshalb habe ich mich mal per Emailmeldung gemeldet! Mit den besten Grüßen aus der Eifel

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  7. Warum bin ich so fett?

    Hey, Reiner: Irgend ’nen Tipp für ’nen Nicht-Alkoholiker, um vom Saufen wegzukommen?
    Trinke eigentlich nur noch aus Gruppen-„Gewohnheit“ (-„Zwang“ kann man dazu nicht wirklich sagen). Hab irgendwie einfach die Schnauze voll von dem Zeug. Hab immer gern und viel und oft getrunken, aber die Zeit ist jetzt irgendwie vorbei.
    Gleichzeitig hab ich aber auch nicht wirklich Lust, da irgendwie komisch rumzumachen. Da trink ich halt lieber was mit. [Ja ja, ich weiß: *Ich* hab Sorgen …]
    Als trockener Alkoholiker hat man’s da ja recht einfach:
    „Hey, lange nicht mehr gesehen! Wir sollten dringend was trinken gehen!“
    „Nein, Danke. Ich trinke nicht.“
    „Hä? Wie bist’n du jetzt drauf?“
    „Ich bin Alkoholiker.“
    „…“
    Vor allem das obligatorische Glas Sekt. Man trinkt halt mit. Da irgendwie rumzumachen, käme mir komisch vor.

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    1. Reiner Beitragsautor

      Sei gegrüßt !

      Na, das ist doch eigentlich ganz einfach. Wenn Du Nicht-Alkoholiker bist, lehnst Du einfach dankend ab und trinkst nichts alkoholisches. Wenn die Menschen der jeweiligen Gesellschaft dich als Mensch schätzen und achten, ist es ihnen gleich. Kommen blöde Kommentare oder Zoten, würde ich mir Gedanken machen, ob das wirklich die rechte Gesellschaft für mich ist.

      Meiner Erfahrung nach geschieht das sehr selten. Einmal wurde hartnäckig nachgefragt, gesundheitliche Gründe gemutmaßt, in Kombi mit meinem eher spärlichen Haarwuchs. Ich gab, um die Fragestunde abzukürzen, religiöse Gründe an,. ohne diese näher zu erläutern. Ruhe war 🙂

      Anders liegen die Dinge, wenn es Dir schwer fällt, abzulehnen. Nicht der (möglichen, aber eher unwahrscheinlichen) gesellschaftlichen Aspekte wegen, sondern weil Du das Gefühl hast, Dir etwas Besonderes zu versagen und wie Du eigentlich dazu kämst, Dir so etwas zu verbieten. Wenn Dir etwas fehlt, ohne Stoff. Ne Belohnung vielleicht, oder `ne Beruhigung ob der vielen Menschen. Oder oder … ja dann bist Du vielleicht doch nicht so ganz frei, wie Du glaubst.

      Kannst nur Du selbst heraus finden.
      Und – es gibt Hilfe, falls …

      Schön, dass Du hier warst 🙂

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  8. FRANKA ZEIDLER

    Ich bin mittlerweile in der zweiten Selbsthilfegruppe gelandet. Zu dieser gehe ich seit März hin. Es gefällt mir überhaupt nicht. Es werden private Dinge besprechen. Fotos werden rum gereicht und Kuchen wird gegessen. Es missfällt mir immer mehr. Es erinnert mich eher an ein Kaffeeklatsch bei Omi. Es kommen ständig neue Mitglieder. Ich will mich nicht ständig neu vorstellen. Das habe ich langsam satt. Es wird sich nicht mit dem Thema Alkoholabhängigkeit auseinandergesetzt. Mir reicht es.

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    1. Reiner Beitragsautor

      Traurig, dass du solche Erfahrung machen musstest. Sei versichert, jede Gruppe ist anders, immer so „gut“, wie die Menschen, die am Tisch sitzen. Wir sind einerseits ein geschützter Raum, sollen es sein. Andererseits sind wir natürlich auch ein Spiegel der Welt „dort draußen“ … so, wie du es beschreibst, klingt das nach einer Gruppe, in der viele seit langem trockene Freunde sitzen. Diese verlieren leider öfter den Bezug zum Sinn des Zusammentreffens und dann kann es in eine Kaffeeklatsch-Runde enden, ja.

      Schau`dich um, es gibt heute ein breites Angebot von Selbsthilfegruppen, nicht nur von AA. Oder thematisiere deinen Eindruck in der Gruppe, das kann durchaus dem einen oder der anderen die Augen öffnen.

      Grüße & schön, dass Du hier warst!

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