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Alte Bilder

Manche Sachen liegen über ein Vierteljahrhundert in Schränken umher, um dann, warum auch immer, hervorgeholt und gesichtet zu werden. So auch dieses Bildchen weiter unten, welches mir vom Eigentümer netterweise zugeschickt wurde.

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Beim Betrachten spult sich ein ganzer Film vor mir ab. 1990 – irgendwann im Sommer vermutlich. Seit 2 Jahren war meine vierjährige Weiterbildung beendet und ich eierte sehr planlos durch mein Leben.

Geliebt habe ich den Maurerporsche auf dem Bild, ein Ford Capri V6 – 2,0 mit satten 90 PS und altbackenem 3-Stufen-Automatikgetriebe, Stadtverbrauch dank Doppelvergaser-Anlage um die 11 Liter, für damals schon nicht übel. Mein Outfit war dem entsprechend, der Nimbus wollte schließlich gepflegt werden. Passend zum Fahrzeug gab es ein paar Fransen-besetzte Wildleder-Boots, von denen zumindest der linke bei schönem Wetter auch schon mal aus dem Fenster hing, dank Automatik-Schaltung kein Problem. Einen Fuchsschwanz gab es übrigens nicht, das habe ich bewußt (Welch ein Wort in dem Zusammenhang!) der Manta-Fraktion überlassen. Dafür schepperten ZZ-TOP und ähnliches aus dem Low-End Blaupunkt Kassetten-Deck.

Die Zeit damals war rückblickend für mich geprägt von Selbstüberschätzung, Planlosigkeit, Überheblichkeit, ein Zustand sehr weit von mir weg, aus heutiger Sicht. Die Woche war gefüllt mit Arbeit, die Wochenenden mit irgendwelchen Partys, wo ordentlich gesoffen und zumindest meinerseits auch gekifft wurde, sehr zum Leidwesen meiner Mitbewohnerin, die dem machtlos gegenüber stand. Immerhin hatte ich damals noch 10 Jahre Alkohol und Dope vor mir, oder, anders gerechnet, 12 Jahre hinter mir. Sozusagen mittendrin. Mein zweites Wohnzimmer damals war das Deja-Vu in Remscheid, welches sich kurz zuvor erfunden hatte und das es wundersamer Weise heute noch gibt. Zwei Brüder, die mit dem neuen Laden kräftig das sagenhafte Remscheider Nachtleben durcheinander brachten und meinesgleichen mit Flensburger, Tequilla und Rock`N Roll versorgten.

Wenige Monate später sollte mein Leben kräftig durchgeschüttelt werden, wovon ich in dem Sommer noch keine Ahnung hatte. Wie weiter oben schon beschrieben, beschränkte sich mein damaliger Bewußtheitsgrad auf gewisse Äußerlichkeiten. Vorläufig war ich mir meiner selbst noch sehr sicher.

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Billard im Kopf

Mutter hol mich vonne Zeche, ich kann dat Schwarze nich mehr sehn…

So las ich kürzlich in einem Kommentar. Manche Worte nisten sich in irgend einem Winkel meines Hirns ein, um da einen Moment zu pausieren, bevor sie sich wieder auf dem Weg machen, in eine gänzlich andere Richtung. Ähnlich vielleicht einem Über-Bande-Spiel beim Billard.

Schwarz, Kohle, Koks, Mutter, Falco…hmm….

Das muss so um 1985 herum gewesen sein. Damals gab es eine Damen-Bekanntschaft aus dem Milieu, die für eine sehr kurze Zeit eine Bereicherung in meinem ahnungslosen Leben darstellte. Sie wiederum machte mich ihrerseits  bekannt mit einem ihrer damaligen Begleiter, einem weißen Pulver.

Zu dieser Zeit gab es einen Kumpan, mit dem ich sehr gerne auf Reisen ging, in die Parallel-Welt, gleich nebenan. Wir hatten altersgemäß eine tolle Kondition und schon öfter mal Grenzen ausgelotet, was den unsachgemäßen Gebrauch von Alkohol und Dope anging. Nun sollte also dieses Pulver noch hinzu kommen.

Es war ein Abend, die mir gut in Erinnerung geblieben sind. Zunächst war das weiße Pulver am Start. Für meine an groben Stoff gewöhnte Seele war das etwas völlig neues. Ich war hellwach, konnte angstfrei reden und denken (!) zeitgleich, ohne die damals übliche Unsicherheit. Ungläubig ob dieser wundersamen Wandlung, mein Kumpel muss das wohl ähnlich erfahren haben, taten wir unser Bestes, die vertraute Sedierung wiederherzustellen. Es folgten derartige Mengen Brandy, Haschisch, und Rock `N Roll, bis wir uns endlich zur Frühstückszeit auf allen Vieren fortbewegen konnten. Primaten unter sich, gewissermaßen.

Ich brauchte fast eine Woche, um danach wieder halbwegs bei mir selbst anzukommen. Die Dame verschwand ebenso schnell wieder aus meinem Leben, wie sie gekommen war, und mit ihr das weiße Pulver. Ein Glück für mich. Wie ich überhaupt ein Glückskind bin, oder, anders ausgedrückt, gut beschützt worden bin. So bin ich nie im Knast gelandet oder in einer entsprechenden Klinik. Die Wirkung des Pulvers und natürlich auch dessen Preis haben mich so erschrocken, das ich nicht daran kleben blieb.

Frei denken und reden lernen sollte noch eine beträchtliche Zeit dauern, ohne Pulver.

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Vom Teufel auf meiner Schulter

Vor gut einer Woche waren wir Gäste bei der Hochzeit eines Anverwandten. Dummerweise war ich genau zu dieser Zeit grippig, jedenfalls stark erkältet. Am Donnerstag reisten wir an, des Abends sitzen wir in einer, in der Pizzeria des Dorfes, in dem wir untergebracht waren. Mein Zustand lässt sehr zu wünschen übrig. Jemand schiebt mit zwei Tabletten herüber, französische Paracetamol. Hier sei erwähnt, ich nehme normalerweise keine Schmerzmittel, damit ich mitbekomme, was mit mir los ist. Heute mache ich eine Ausnahme, angesichts des zu erwartenden Stress. So werden die 1000mg mit Wasser herunter gespült.

Ich verabschiede mich vorzeitig und ziehe mich in die Unterkunft zurück. Die Tür muss ich auflassen, derweil wir nur einen Schlüssel haben und die Liebste sonst nicht herein kommt. Schnell komme ich in den Schlaf. Stunden später werde ich wach und wundere mich, das die Liebste neben mir liegt. Nichts habe ich gehört, was total untypisch ist, derweil ich normalerweise einen sehr leichten Schlaf habe, nicht gut durchschlafe und öfter wach werde.

Auf meiner Schulter sitzt ein kleiner Teufel. Sofort fängt der an zu flüstern:
Siehst du, geht doch mit dem schlafen. Da gibt es noch ganz andere Sachen…

Mit dem kleinen Kerl habe ich mich insofern arrangiert, das ich ihn hinnehme und ihn nicht mehr verhauen möchte. Nützt auch nichts, der taucht nur kurz ab, um sich kurz darauf in alter Frische wieder zu melden. Also darf er dort sitzen bleiben, da er ja nun mal offensichtlich zu mir gehört, hartnäckig, wie er ist. Was nicht zwangsläufig heißt, das ich auf ihn höre. Er versucht es immer wieder, und er macht das ziemlich gut:

Komm`schon, gib`s doch zu. Du hast doch damals nur so dreingehauen, weil Du emotional so dermaßen durchgeknallt warst. JETZT ist das doch alles anders, nun kannst Du doch mal gesittet und in Maßen…

Meinen Einwand, eventuell auch so durchgeknallt gewesen zu sein, weil ich so dermaßen konsumiert habe, lässt er nicht gelten. Stattdessen wuchert er mit seinen unschlagbaren Argumenten:

Na ja. Wie auch immer. Aber ICH bin auf jeden Fall SCHNELLER als Du mit deiner ganzen so genannten Spiritualität, mit deinem kippeligen Glauben an deine höhere Macht. Und wirkungsvoller, hihi. So schnell, wie meine Rezepte wirken, hilft dir kein Gebet. Garantiert!

Der kleine Arsch weiß schon ziemlich gut zu argumentieren.

Kannst Du dich noch erinnern? Den feinen Kokon, den Du um dich herum hattest. Die Welt war dort, wo sie hingehört, nämlich draußen, außerhalb von Dir. Hast sie sehr angenehm nur wie durch Watte wahrgenommen. Böse Welt! Und wie dünnhäutig Du heute manchmal sein kannst. Wie gesagt, da gibt es noch ganz andere Sachen…früher hattest Du außerdem auch nicht solche Gewissensbisse, wenn Du dich mal so richtig schön Scheiße benommen hast. Warst gut aufgehoben in deinem Elfenbeinturm!

Spätestens jetzt erinnere ich ihn an den Preis, den ich zu zahlen habe, beim befolgen seiner tollen Ratschläge. Unfreiheit und Abhängigkeit. Verlust meiner Würde und Selbstachtung. Ruin von Körper, Geist und Seele. Ich erkläre ihm, das seine Teilwahrheiten mich nicht mehr blenden können, weil ich schlicht nicht mehr bereit bin, den Preis zu entrichten. Dann schweigt mein Mitreisender erst einmal, bis zum nächsten mal. Es ist eine Entscheidung. Meine Entscheidung, nur für heute. Es nimmt kein Ende, einmal süchtig. immer süchtig. Die Stoffe sind frei austauschbar, das Prinzip dahinter stets dasselbe.

Heilung ist unmöglich, Stillstand lebbar.

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Stachel im Fleisch 1

Es war irgendwann um 1968 herum, kurz vor oder nach meiner Einschulung. Die Stimme mit dem grünen Auge hatte gerade das Wohnzimmer verlassen müssen, das erste Transistor- Radio hatte Einzug gehalten. Meist lief Radio Luxemburg, was oft mit diversen Antennen-technischen Geduldprüfungen einher ging, da die Radio-Wellen nur schlapp bei uns im Tal ankamen. Radio Luxemburg hatte damals noch nicht den asigen Ruf von heute, sondern war eine gefragte Alternative zu den stinklangweiligen öffentlich-rechtlichen Sendern, von wenigen Ausnahmen dort mal abgesehen.

War mein Vater nicht da, lief die Kiste durch. In seiner Anwesenheit allerdings wurde der ganze neumodische Kram erst einmal aus- oder runter gedreht. Die Töne, die mir so sympathisch waren, in ihrem Kontrast zu den von meinem Vater so geliebten Heimat-Schnulzen und dümmlichen Schlagern. Pop-Musik eben oder in der Königs-Klasse Rock`N Roll.

Damals wusste ich natürlich nicht von solchen Band`s wie The Who oder den Stones. Von Woodstock schon gar nicht. Neben den viel versprechenden, fremden Klängen machten mich die Statements meines Vaters bezüglich der Musik und der neuen Zeit so ganz allgemein neugierig. Der war in seinem Innersten zutiefst erschüttert über die Welt da draußen. Revoltierende Studenten, die ersten Bombenleger, Straßenkämpfe, Randale. Rock`N Roll, das hörten für ihn nur die Gammler und Hasch-Raucher, wie er meinte, ohne mir das näher zu erläutern.

Irgendwie machte mir seine Ablehnung dieser ihm fremden Welt erst einmal Neugierde. Zumal es da noch diese Freundin meiner Mutter gab, mit ihren drei Kindern. Eines davon war seinerzeit bestimmt schon 16 oder so, also ein Jahrgang, den man heute als 68er bezeichnet. Lange Haare, Flicken-Jeans, rotzfrech und er hatte eine elektrische Gitarre samt Verstärker, mit der er wunderbaren Lärm produzierte. Einen Vater hatte der auch, allerdings nicht sein “richtiger”, selten zuhause, und wenn, dann mit Neigung zu Krawall. Jedenfalls war ich fasziniert von dem “Großen”, der kam mit seiner Gitarre dem mysteriösen Bild der verfluchten Gammler und Hasch-Raucher meines Vaters schon recht nahe.

Der Grundstein war gelegt, der Stachel im Fleisch saß. So wuchs ich also in die 70er Jahre hinein, dem Jahrzehnt, das an Schrägheit unübertroffen bleiben sollte. Laut, schrill, bunt, rückblickend mit seinen zahllosen Stilblüten an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten. Für einen mittlerweile 10-jährigen wie mich jedoch Faszination pur sowie absolutes Kontrastprogramm zum elterlichen Mikrokosmos.

* Fortsetzung *

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Stachel im Fleisch 2

Die 70er Jahre. Während bei Freunden schon Plattenspieler Einzug gehalten hatten (meist so ausrangierte Truhen aus den 50ern, 60ern) , musste ich mich vorerst noch mit einem Kassettenrecorder begnügen. Aufnahmen mit Mikrofon vom Radio und ständig der Ärger mit dem dazwischen-Gequatsche von Mal Sondock. Aber immerhin konnte man die Kratze mit raus nehmen und draußen aufdrehen, das ging.

Um 1972 herum zogen meine Eltern wieder einmal um, ich bekam einen neuen Nachbarn, vielleicht 4 Jahre älter als ich. Der lebte bei seiner allein erziehenden Mutter, hatte einen Plattenspieler sowie einen Bravo-Starschnitt von Suzi Quatro an der Tür, in Lebensgröße. Seine Bude wurde schnell mein zweites Kinderzimmer. Wir konnten ungestört Gary Glitter, Suzi & Co. hören und – rauchen ging auch, da seine Mutter ebenfalls qualmte, so hatte ich eine Ausrede für mein verstunkenes Zeug. Leider hielten diese seligen Zustände nicht all zu lange. Mit 13, glaube ich, nahm mich die Gang des Nachbarn mit zum saufen in den nahe gelegenen Talsperrenwald, was mir nur bedingt gut bekam. Der billige Rotwein aus den Zwei-Liter-Bomben machte mich Bewegungs-unfähig, die Burschen trugen mich aber netterweise noch bis vor die Haustür. Darauf hin fühlten sich meine Eltern verständlicher Weise genötigt, die Notbremse zu ziehen und erteilten mir Kontaktverbot mit dem spannenden Nachbars-Jungen.

Zuhause hielt sich das Verständnis für meinen Musikgeschmack in Grenzen. Poster aufhängen war z.B. nur eingeschränkt möglich. So hielt es Marc Bolan nur einen Nachmittag an der Wand, bis mein Vater ihn Abends entdeckte, entsetzt über mein neues Idol. Ganz konnten sich allerdings selbst meine Eltern nicht dieser Zeit entziehen. Immerhin waren sie damals im so genannten besten Alter von Mitte-Ende Dreißig und es gab ständig irgend etwas zu feiern im Familien-Freundes und Bekanntenkreis, der teils den Segnungen der Pop-Musik aufgeschlossener war. Und auch sonst. Gefeiert und reichlich getrunken wurde friedlich, laut und – lustig. Die tolle Stimmung an diesen Tagen stand im krassen Gegensatz zu der Alltags-Stimmung daheim, die ich damals als eher spannungsgeladen und geschwängert von einer getragenen Ernsthaftigkeit empfand. Ein leichtes Leben hatten die beiden jedenfalls nicht mit einander. Fatal sollten für mich die späteren Folgen dieses steten Wechsels der Stimmungen sein. Musik+saufen=lustig, so einfach schien das.

Anderswo schien die Welt lockerer zu sein. Einer meiner Schulfreunde hatte sein Zimmer ausstaffiert mit tollen ausrangierten Kram seiner Eltern inklusive Musik-Truhe, mit selbst gebastelten Boxen aus unzähligen Breitband-Lautsprechern vom Sperrmüll. Der wohnte damals nicht weit von hier nebenan auf dem Ölberg in einem alten Gründerzeit-Kasten. Wir hatten einigen Spaß mit einander, auch schienen seine Eltern bedeutend lockerer drauf zu sein als meine. Vor einigen Jahren trafen wir uns mal wieder und er versicherte mir, das seine Eltern damals sozusagen einen Schalter umlegten, sobald wer zu Besuch kam und es ansonsten ebenso eher wenig lustig war. Der schöne Schein eben.

Mit 15 war es dann endlich soweit. Ich wurde erhört und bekam die alte, ausrangierte Stereoanlage meines Onkels geschenkt. Tatsächlich habe ich ein Bild von dem Ding im Netz aufgetrieben, ein so genanntes Bolero-Studio von Telefunken, ohne Lautsprecher, was aber nicht weiter tragisch war. Wie man sich auf dem Sperrmüll mit dem Nötigsten versorgte, inklusive der Verdrahterei, das wusste ich ja.

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Nicht schön, aber laut war das Teil, und ich konnte endlich mein Taschengeld in Schallplatten investieren. Inspiriert vom Musikgeschmack meines Kumpels war meine erste Platte allerdings kein Pop, sondern handfester Psychedelic-Rock  von Pink Floyd. Wir waren begeistert von deren Musik zum Träumen, zum drauf abfahren und auch von dem perfektionistischen Gebaren der Band damals. Erste Eindrücke einer Parallel-Welt taten sich uns auf, eine Flucht, die mich lange begleiten sollte, auch wenn ich damals noch sehr wenig trank und Drogen mir (noch) komplett fremd waren. Die Musik jedenfalls war fantastisch und ist es bis heute geblieben:

 

Fortsetzung

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Stachel im Fleisch 3

1978. Ein Jahr, in dem sich eine ganze Menge änderte, in meinem Leben. Die Schule hatte ich endlich abgeschlossen, mehr schlecht als recht, aber, wenn man so will, schon zielorientiert. Mein einziger Ehrgeiz bestand damals darin, dieses Schüler-Dasein nicht durch sitzen-bleiben zu verlängern, dem entsprechend sah dann auch der Abschluss aus. Einen Beruf galt es zu lernen, meine Traumberufe blieben aufgrund meines herausragenden Abschlusszeugnisses eben Traumberufe. Meinen schlussendlich erlernten Beruf habe ich dann auf anraten meines Vaters gewählt, wofür ich ihm auch heute noch dankbar bin.

Die Lehre. Wir waren damals zu dritt, in unserem Jahrgang. Einen kannte ich aus der Grundschule noch, wir waren mal Nachbarn, wenn auch aus sehr ungleichen Verhältnissen, so mochten wir uns doch. Der andere wohnte sozusagen um die Ecke von mir, wir zwei wurden schnell recht dicke mit einander. In unserem Dorf hatte mein neuer Kumpel eine große Clique, alles ehemalige Messdiener in der erzkatholischen Gemeinde, was ich witzig fand, weil die Jungs eben gar nicht so heilig waren. Im Gegenteil. Wir trafen uns regelmäßig Freitags Abend zum saufen und abrocken, was sich später dann  immer öfter auch mal bis Sonntag Mittag hinzog. Immerhin waren wir ja mittlerweile wer. Unser Lehrlings-Dasein mit bescheidenen Einkünften, die ersten Autos, die ersten Frauengeschichten. Wobei die bei mir zu der Zeit eigentlich so gut wie keine Rolle spielten. Das sollte erst viel später kommen, dann aber umso heftiger.

Mein einziges Ziel bestand damals darin, diesen Beruf zu erlernen, um endlich zuhause abzuhauen. Selbst haushalten, ohne zu wissen, wie und in welche Richtung, Hauptsache raus. Was immerhin mit langsam einsetzenden Ehrgeiz verbunden war. Wenn die Pflicht gerade mal nicht rief, wurde gefeiert, und wir waren in unseren Dorf da alle gleich unterwegs damals. Selbst zuhause wurde mein liederliches Leben toleriert, weil ich ja jetzt arbeiten ging. Und solange Sonntag Mittag Schluss war und ich Montags wieder raus kam, war es meinen Eltern zähneknirschend recht. Das Bild der Gammler und Haschraucher meines Vaters wurde also langsam von mir revidiert. Zum einen der Erkenntnis sei Dank, das man Freiheit, Bier und Fusel auch bezahlen muss, zum anderen zog Haschisch erst zeitversetzt in die Zentren meiner Gier ein.

Zu feiern gab es also einiges. Musikalisch untermalt wurde das, nachdem der Glamrock sein kurzes und grelles Dasein ausgehaucht hatte, von dem erklecklichen Nachlass und für mich neue Töne, Hardrock a la ACDC zunächst und später dann Punk und Metal. Nina Hagen,  Marius Müller-Westernhagen, ab `79 dann auch Jürgen Zeltinger und BAP schepperten aus den Low-End-Anlagen in unseren Buden, wenn uns das Geld für die Kneipe ausgegangen war, was schon zeitig im Monat der Fall war. So langsam fand ich Gefallen an meinem Leben, damals natürlich nicht ahnend, worauf ich mich da einließ. Breit sein war Erlösung und Geschenk zeitgleich und Spaß hatten wir mit einander, so wie später selten wieder.

Altes neu verpackt kam auch sehr gut, und der Dicke ließ uns Köln sehen…

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– Fortsetzung

Stachel im Fleisch 4

1981. Sozusagen über Nacht, nach bestandener Gesellenprüfung, wurden wir zu „Herren“, wie der Betriebsleiter unseres Lehrbetriebes meinte, als er vom trauten Du zum Sie hin wechselte. Meine lang ersehnte Freiheit, oder besser das, was ich mir darunter so vorstellte, damals, rückte immer näher. Im Lehrbetrieb hielt ich es als Geselle noch ein Dreiviertel Jahr aus und fast zeitgleich mit dem Stellenwechsel zog ich im Frühjahr `82 in meine erste, eigene Bude.

Wie also sah sie aus, meine Freiheit? Austoben. Jedes Wochenende war irgend etwas los, ich bewegte mich in von einander sehr verschiedenen Gesellschaften, an manchen Samstagen mehrere hintereinander, wohl überlegt, in welcher Folge. Gras und Dope waren mittlerweile ständige Begleiter geworden, damit meinte ich mich auf den Straßen ganz gut bewegen zu können. Der Ahnungslosigkeit mancher Polizisten damals sei Dank, das mir der Führerschein erhalten blieb. Und meinen Schutzengeln sei Dank, das niemand zumindest körperlich durch meine Art zu leben damals zu Schaden kam. Meist landete ich zum Schluss bei meinen Kumpanen im Dorf, aus dem ich gerade ausgezogen war. Hier konnte ich mir gefahrlos den Rest geben, pennen konnte ich immer irgendwo, friedlich, das hieß, ohne Gefahr zu laufen, sturz-voll auch noch ausgemistet zu werden. Mein Glück damals war, das zwischen den vielen Gleichgesinnten in Sachen Alkohol und Drogen immer wieder auch Menschen waren, die anders lebten. Mit denen sich Freundschaften entwickelten, die zum Teil bis heute halten.

Einerseits kostete ich meine „Freiheit“ also in vollen Zügen aus, exzessiv und gründlich. Die Leine allerdings, an der ich mich geglaubt hatte, war keineswegs zerschnitten, sie wurde nur länger und unsichtbar. Die Worte und Werte von zuhause. Die mir angstbesetzt im Nacken saßen, aber, mal positiv betrachtet, immerhin dazu beitrugen, das mein Leben nicht vollends in Richtung Bohème  driftete.

So ging das in etwa zwei Jahre lang. Bis mich mein Grundschul-Freund und ehemaliger Mit-Lehrling davon überzeugen konnte, mich weiter zu bilden. Uns beide verbanden ansonsten eher gemeinsame, versumpfte Abende und verrückte Aktionen im dichten Schädel, er allerdings schickte sich ernsthaft an, via Studium irgendwann den väterlichen Betrieb zu übernehmen. Ein Studium kam für mich nicht in Frage, so entschied ich mich zu einer berufsbegleitenden Weiterbildung. Vier volle Jahre sollte das dauern, drei Abende die Woche Schule, dazwischen Vorbereitung auf Klausuren, Hausaufgaben. 8-Stunden Job mit gelegentlichen Überstunden, ein Leben aus Tasche und Koffer zwischen Arbeit und Schule. Ehrlicherweise habe ich selbst nicht daran geglaubt, das zu schaffen, aber nachdem das erste Semester herum war, ließ mich das nicht mehr los. Am Anfang waren wir über 30, am Ende noch 14, glaube ich. Wenn ich mir wegen fehlender Zeit mal ein wenig leid tat, erinnerte ich mich an ein paar Schulkollegen, die quasi nebenbei noch Kinder zeugten und Häuser bauten.

Alles war eine Frage der Struktur. Arbeit, Schule, das Recht auf Rausch, auf Betäubung, Belohnung für die Heldentaten. Der Freitag war stets frei gehalten zum intensiven kiffen und saufen, selbst unter der Woche, nach der Schule ging es manchmal noch für ein paar Stunden einen Kumpel besuchen. Kondition hatte ich, wie man sie wohl auch nur in diesen Jahren hat. Dazwischen immer mal wieder ein Stellenwechsel, mal freiwillig, mal gezwungener Weise. Dazu kam noch meine damalige Mitgliedschaft beim technischen Hilfswerk, anstelle Militär. 10 Jahre Verpflichtung, einmal im Monat ging dafür ein Samstag drauf. Wobei nach einer kurzen Schamfrist die Abkürzung THW für mich und meinesgleichen schnell umgedeutet wurde. Trinken-Helfen-Weitertrinken. Ein völlig loser Tag in einem ansonsten Stress-gefüllten und Arbeits-überladenen Monat. Sinn-frei, die wenige Arbeit, die es für uns gab, war meist nach 1, 2 Stunden erledigt und so waren wir morgens um 10 meist schon voll. Ein Tag jenseits von gut und böse also.

Mitten in dieser Zeit lernte ich meine erste, „feste“ Freundin kennen. An dieser Stelle weiter zu schreiben, verursacht mir (immer noch) Unbehagen. Wir zogen aus gegebenen Anlass sehr schnell zusammen, während der ersten zwei Jahre hatte ich ja gute Gründe für die wenige Zeit, die ich für sie hatte. Die Arbeit, die Schule, ja. Nachdem die Schule dann `88 endlich zu Ende gebracht war, fiel ich leider zurück in alte Gewohnheiten in Sachen feste Feiern. Für mein Verhalten damals bekam ich viel später die Rechnung präsentiert, nichts bleibt folgenlos, wenn man solcher Art durch`s Leben geht. Während sie im Grunde nur Geborgenheit und Nähe suchte, forderte ich Verständnis für meine Gier. Absolution wird mir dafür in diesem Leben nicht mehr erteilt.

Damals  jedoch waren mir jede Selbstzweiflel fremd. Anfang der 80er hatten sich nebenan in Düsseldorf die toten Hosen erfunden und nichts beschreibt das Lebensgefühl dieser Zeit besser als das kleine Lied weiter unten. Meinesgleichen gab es einige und obwohl wir rein äußerlich zumindest irgendwo im Leben angekommen waren, ging es an manchen Tagen genau anders herum zu.

Über allem stand in großen Buchstaben: WOFÜR?

Fortsetzung

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Stachel im Fleisch – Intermezzo

Der letzte Eintrag schließt Ende der 80er Jahre. Enttäuscht sind möglicherweise nun wohl eher diejenigen, welche aus den ersten Einträgen auf den Themen-Schwerpunkt Musik / Rock`N Roll geschlossen haben und anstelle dessen nun eine Art Lebensgeschichte mit der Haupt-Thematik Sucht vorfinden. Hier kann ich versichern, das für mich beides schon in gewisser Weise zusammen gehörte, damals zumindest. Heute ist das natürlich anders, sonst könnte ich ohne Durst an keinem Radio vorüber gehen. Musik hat heute für mich den Stellenwert, der ihr zusteht. Den der Unterhaltung, Zerstreuung, Katalysator zum nach- und aufspüren, kanalisieren von Stimmungen hauptsächlich. Schlicht Spaß daran haben, auch, wenn vieles Erinnerung-behaftet bleibt, positiv wie negativ.

Einige Schwierigkeiten gibt es derzeit beim weiter schreiben, den fünften Teil eben, der in die 90er Jahre geht. Ein für mich sehr ereignisreiches Jahrzehnt. Wie fasse ich solche Jahre auf ein paar Seiten zusammen, reduziert auf ein diesem Blog angepasstes Format. Wie den roten Faden behalten und mich eben nicht in zahllosen Details zu verlieren. Selektieren all das, was aus den Tiefen so aufsteigt – was genau davon kann hier preisgegeben werden und was nicht, gerade auch mit Blick auf die Wahrung der Anonymität anderer. Auch, wenn nirgendwo Namen auftauchen – das Bergische Land ist ein etwas größeres, gallisches Dorf und manch geneigter Leser weiß sowieso, wer hier wo gemeint war.

Andere Schwierigkeiten stellen sich hingegen eher nicht. So bin ich weder eine sogenannte Person des öffentlichen Interesses, noch beabsichtigte ich, in diesem Leben weiter führende Karriere zu machen. Weiter wird es also gehen, wie und wann auch immer.

– Fortsetzung- 

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Stachel im Fleisch 5

Die 90er – sie standen zunächst für mich im Zeichen der Sehnsucht und der Sinn-Suche. 1990 lernte ich die Mutter meines Sohnes kennen. Familie, Nähe, Stabilität, einen Sinn machen. Ein „bürgerliches“ Leben, wie man so sagt. Mit regelmäßigen Unterbrechungen durch gekonnt inszenierte Alkohol-Exzesse. Gleichgesinnte Zeitgenossen fanden sich irgendwie immer und es gab ja auch noch die Jungs aus dem Dorf, deren Trinklaune immer noch über jeden Zweifel erhaben war. Regelmäßige Fluchten aus einer Welt, die mir zunehmend eng erschien.

Im Kern sind diese Jahre schnell berichtet. Details spare ich hier aus, mit Rücksicht auf andere Beteiligte. Es konnte nicht wirklich gut gehen – folge deinem Muster, heißt es. Oft habe ich mich gefragt – und bin auch oft gefragt worden, ob meine erste Ehe gehalten hätte, wenn ich nicht getrunken hätte. Eine Frage wie eine Bananenschale, man rutscht schnell darauf aus, weil der Konjunktiv ein glattes Parkett sein kann. Heute weiß ich, zu der Zeit, als die Unterschiede zwischen uns so deutlich wurden, das sie nicht mehr zu übersehen waren, wäre es Zeit gewesen, zu gehen. Aber ich sollte bleiben, lernen, und – meinem Sohn das Leben geben.

Ende `98 kam dann, was kommen sollte: Die Trennung, Auszug in ein Haus unweit unserer alten, gemeinsamen Wohnung. Mit Nachbarn, die mir ähnlich sahen. Viele Allein-Stehende, überwiegend Männer, alle irgendwann mal hart aufgeschlagen im Leben. Und – die meisten von ihnen tranken, beste Gesellschaft also für mich, der ich mich jetzt in meinem Selbstmitleid suhlen konnte und mit Alkohol sowie auch wieder Haschisch haushalten konnte, wie ich wollte. Neben dem exzessiven Trinken und Kiffen trank ich mittlerweile täglich, nach der Uhr, sozusagen. Jeden Abend, meist allein, aber auch in der vorhandenen, passenden Gesellschaft damals.

Fatal war für mich die Erkenntnis, mittels Alkohol und Dope nicht mehr in meine geliebte Parallelwelt gelangen zu können. Es reichte, wenn überhaupt, gerade noch für eine kurze Zeit der scheinbaren Ruhe vor mir selbst, Das einzige, was mir dazu einfiel, war mehr davon, etwas anderes kannte ich ja nicht. Nur war ich mittlerweile fast 38 und keine 20 mehr, mit dementsprechend nachlassender Kondition. Ausgestattet mit einer wund geschossenen Seele, die sich nicht mehr betrügen lassen wollte von Stoff-gebundenen Parallelwelten. Eine Seele, die nach Wahrhaftigkeit schrie und anstelle dessen immer noch zugeschüttet wurde. Am Ende selbst Nachts, trinken gegen die Alpträume.

Grenzbereiche und Nebenkosten der Sucht , wohin ich auch sah. Ein Leben auf der Kippe, mit allen dazu passenden Begleiterscheinungen. Ohne Selbstachtung und ohne Würde, dafür mit der Aussicht auf Verlust der Arbeit, die ich nicht mehr ausfüllen konnte. Eine kranke und selbstzerstörerische Liaison mit einer Medikamenten-abhängigen Frau, deren einziger Sinn wohl darin bestehen sollte, das ich anfing, mich für Therapie-Möglichkeiten zu interessieren. Anfang 2000 dann eine Nacht, in der ich alles in mich hinein fuhr, was vorhanden war. Wein, Wodka, böses niederländisches Gewächshaus-Gras, das mit dem harmlosen Zeug der 80er nichts mehr zu tun hatte. Kreislauf-Kollaps mit eiskaltem Schweiß und einem wie irre schlagenden Herzen. Todes-Angst und kein Gedanke daran, mir Hilfe zu holen.

Hol`mich doch, wenn Du mich haben willst…

Am nächsten Morgen gab es mich immer noch und ich wusste, das war die letzte Warnung. Der da oben hatte mich diese Nacht überleben lassen, verbunden mit der tiefen Gewissheit, das eine Wiederholung die letzte sein könnte. Endlich begann ich ernsthaft, mich für Hilfe zu interessieren. Eine ambulante Therapie konnte beginnen, ich konnte vom trinken lassen, fand den Weg zu den anonymen Alkoholikern, denen ich bis heute in Dankbarkeit verbunden bin. Seit dieser Zeit feiere ich am 28 Februar meinen zweiten Geburtstag, dem Tag, an dem ich zum letzten mal trinken musste.

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Epilog

Stachel im Fleisch – Epilog

Wie hast Du das geschafft? So werde ich manchmal gefragt. Wie bist Du trocken geblieben, nach so langer Zeit? Zu Beginn stand die Entscheidung für das Leben, für mein Leben. Die erste große Kapitulation, die vor meiner Unfähigkeit, mit Alkohol und anderen bewusstseinsverändernden Mitteln umzugehen. Es sollte nicht die letzte Kapitulation sein, aber ziemlich sicher die wichtigste.

Sehr viel Zeit war auf einmal frei geworden. Zeit, die ich bis dahin mit saufen verbracht hatte. Das war die erste große Überraschung, festzustellen, wie viel Zeit ich eigentlich hatte. Eine riesige, nervöse Leere, die irgendwie gefüllt werden wollte. Nächte lang lief der Fernseher durch, bis sich so etwas wie ein geregeltes Leben einstellte, vergingen Monate. Bei den anonymen Alkoholikern hatte ich gelernt, mein Leben in 24-Stunden-Abschnitte einzuteilen. Heute das erste Glas stehen zu lassen. Manchmal habe ich diese an sich überschaubare Zeit von einem Tag sogar noch verkürzt, bis hin zu jetzt nicht. Überhaupt hörte ich dort keine Tiefen-psychologischen Erklärungen für meine Zustände, sondern kurze, schlüssige Weisheiten, die ich sofort verinnerlichen und in mein Leben einbauen konnte. Hab`Geduld mit dir! So hörte ich, und die damit verbundenen Menschen klangen nicht nach Phrasendrescher vom Tresen. Sätze, die gerade in der ersten Zeit unglaublich hilfreich waren, wenn Unruhe, Leere und Nervosität mich umtrieben.

Veränderungen im äußeren Leben standen an. So verließ ich erst einmal die Stadt, eine neue Wohnung, weg von dem mir so vertrauten, klatschnassen Umfeld. Schon nach kurzer Zeit war mir ein Meeting die Woche zu wenig, zeitweise ging ich fast täglich Abends in irgend ein Meeting. Die neuen Freunde taten mir alles in allem sehr gut, mit ihren Erfahrungen und mit ihrer Nähe. Zudem hatte ich das unwahrscheinliche Glück, in meinem damaligen Stamm-Meeting einem ehemaligen Sauf-Kumpan zu begegnen, der den Weg in die Trockenheit schon viele Jahre vor mir geschafft hatte. Dieser Mensch war gerade in meinem ersten Jahr sehr um mich bemüht, wofür ich heute noch dankbar bin.

Viel Zeit habe ich am Anfang damit verbracht, mir mein bisheriges Leben anzuschauen. Erklärungen finden und mich selbst dabei manchmal einfach nur auszuhalten. Meine Scham über einiges, was ich gelebt hatte ebenso wie die Wut auf Menschen, von denen ich glaubte, das sie mir wesentliches vorenthalten hatten. Es sollte lange dauern, bis ich Frieden finden konnte, gerade auch mit meiner Familie. Ohne meine neuen Freunde hätte ich das wahrscheinlich nicht geschafft und wäre ziemlich sicher schnell in alte Muster zurückgefallen. Du schaffst es nicht allein, aber nur Du allein schaffst es. Auch so eine seltsame Weisheit, die mir zunächst ziemlich blöde in den Ohren hing. Es stimmt schon, das Leben leben kann jeder nur für sich, eigenverantwortlich,  aber dennoch in passender Gesellschaft, eben geistige Verwandtschaft, die sich jeder aussuchen kann. Damals wie heute ist das für mich wichtig. Zu Beginn waren es manchmal nur 5 oder 10 Minuten lange Telefon-Gespräche, die mich wieder beruhigten in manchen Zuständen von Unsicherheit, Angst und Unruhe. Mich selbst auszuhalten sollte ich erst mühsam lernen.

Langsam kamen neue Eindrücke, neue, Erfahrungen in mein Leben. Ein unwahrscheinlich starkes Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, verbunden mit einer großen Neugier auf alles mögliche, was es zu entdecken galt. Noch einmal trocken Orte der Vergangenheit aufsuchen, verbunden mit der Freiheit, gehen zu können, wann es mir beliebte. Eben ohne den Rausch mit einplanen zu müssen, nicht mehr Auto fahren zu können, nicht mehr Herr meines Geistes zu sein, mit allen damit verbundenen Zu- und Umständen. Vieles glich gerade in den ersten Jahren einem Ausschlussverfahren, Versuch und Irrtum, das, was mir gut tat, sollte bleiben. So eine Art interaktives Annähern an dem, was zu mir passen sollte, ein Prinzip, was sich in allen möglichen Aktivitäten ausdrückte wie Musik, Vorlesungen, Ausflüge, VHS-Seminare oder die Beschäftigung mit Religion, mit dem, was Spiritualität genannt wird. Selbst mein Verhältnis zum anderen Geschlecht sollte nach diesem Muster verlaufen, aber das ist eine Geschichte für sich.

Langsam lernte ich, Vertrauen zu fassen. Zu glauben an eine Sinn, der mich hatte überleben lassen. mich allmählich geborgen und getragen zu fühlen von einer Macht, größer als ich selbst. Von Gott, wie ich ihn verstehe, und das ist nicht die strafende Urgewalt früherer Zeiten, der jedem das seine zukommen lässt, sondern einer der mich liebt, so wie ich bin. Der mich lernen ließ, das Leben anzunehmen und bei aller zeitweisen Schwere das Lachen und die Freude am Leben wieder zu entdecken.

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Jeder kennt einen oder kennt einen, der einen kennt, der zuviel trinkt. Manchmal handelt es sich dabei sogar um ein und die selbe Person 😉 All denen möchte ich an dieser Stelle Mut machen, Mut auf ein neues Leben ohne Bewusstseins-verändernden Mittel, auf ein Leben abseits der mit der Sucht verbundenen „Nebenkosten“. Mut, sich Hilfe zu holen in irgend einer Gemeinschaft, die Auswahl ist groß geworden hier. Anonyme Alkoholiker, der Kreuzbund, das blaue Kreuz, zahlreiche Freundeskreise Suchthilfe bieten umfangreiche Angebote.