Archiv für den Monat: Dezember 2022

Spiegelbild

Manche Menschen vergisst man nicht, auch wenn man sie nur einmal gesehen und kaum mit ihnen gesprochen hat.

2001

Der Raum wirkt düster, trotz der großen Fenster, vor denen ein paar abgerockte Topfpflanzen stehen. Ablagerungen von Tabakrauch verhindern helles Tageslicht und trotz der offenen Tür stinkt es nach preiswertem Kraut zum selbst-drehen. Einige wenige der üblichen Verdächtigen nehmen Platz, die Mienen sind meist verschlossen. Sie wollen nicht hierher, müssen aber, sonst droht Abbruch der Maßnahme (das ist heute anders). Niemand spricht ein Wort, man wartet.

Mir ist flau, wie meist, bei solchen Gelegenheiten, obwohl ich nicht allein bin. Zu zweit sitzen wir hier, um den Menschen von der anderen Seite der Tische die Vorzüge eines trockenen und vielleicht auch nüchternen Daseins näher zu bringen. In der Begeisterung meiner Anfangszeit damals war ich mir sicher, auf diese Weise die Welt, wenn schon nicht retten, so vielleicht doch für den einen oder anderen zu einem besseren Ort machen zu können. Diese so genannten Informations-Meetings waren meist Monologe unsererseits, obgleich das Wort frei war für alle. Nie sah ich jemanden in einem regulären Meeting wieder. Später, viel später traf ich Menschen, die einst auch „auf der anderen Seite“ der Tische gesessen haben, sich das vermeintliche Geseier wortlos anhörten und sich Jahre später an das Gehörte erinnerten und für sich endlich Wege finden konnten. Worte können manchmal Samenkörner sein, die lange im Staub überleben, bevor sie keimen dürfen.

Ob das für ihn auch gelten konnte, weiß ich nicht, auch ihn sah ich nie wieder. Ich sehe ihn noch da sitzen, als einer der ersten, die kommen. Ein Mensch von meiner Statur, aber locker 20 Jahre älter als ich. Pünktlich sein, nur nicht auffallen. Unruhige Hände mit derben Nikotin-Spuren an den Fingern, ein eisgrauer Bart mit ebensolchen Farbflecken rahmt sein nervöses Gesicht. Auch er spricht nicht viel, stellt sich wie alle anderen zu Beginn kurz vor. Seine Anzahl der Entgiftungen liegt im zweistelligen Bereich, sagt er. Kein schlichter Mensch, seine Worte sind gewählt, er spricht langsam, während sein Blick rastlos und unstet von hier nach dort suchend gleitet. Angst spricht aus seinem Habitus, wie ein waidwundes Tier, am Ende seiner Flucht angelangt. Ein Mensch, der vor seinen losen Nervenenden kapituliert hat, aber eben nicht vor dem, was dieses Desaster mit angerichtet hat. Er ist wie ich, fährt es mir durch den Kopf. Er zeigt mir, wer ich sein kann, so ich denn überhaupt so alt werde wie er nun ist. Er ist mein dunkler Spiegel.

Ich weiß nicht, ob er noch lebt, wahrscheinlich nicht, da ich heute so alt bin wie er damals. Sein Gesicht jedenfalls lebt in mir weiter, zu sehr erinnerte er mich an den, der ich hätte werden können.

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Nebelbilder

Sie sind ziemlich genau zwei Jahre alt und entstanden am letzten für ihn erreichbaren Sehnsuchtsort meines kürzlich verstorbenen Vaters, am Stausee Beyenburg zu Wuppertal. Zu dieser Zeit war er noch ein wenig mobil und das Wetter war phantastisch für nebelige Bilder. Wir fuhren über die Höhenzüge im strahlenden Sonnenschein hinunter ins Tal, in eine Wolke hinein. Eine bizarr nasse Landschaft, die Sonne gab sich alle Mühe, den dicken Nebelsumpf zu durchbrechen, der im Tal über der Wupper lag.

Die Phantasie macht aus diesen Bilden Exkurse in die Mystik. So in etwa mag der Grenzfluss Styx ausschauen, der mit seinen Ufern die Welt der Lebenden von der der Toten trennt. Mein Vater ist nun auf der anderen Seite und findet hoffentlich seinen Frieden.

Sie sprechen für sich , die Bilder, die hier ihrer Schönheit wegen in Originalgröße zu sehen sind.

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