Archiv für den Monat: Januar 2015

Mitfahrgelegenheiten

Die Zeit am Jahresende ist Reisezeit, so auch für uns dieser Tage. Wir hatten dermaßen viel Zeug mit an Bord, das auf dieser Tour für Mitfahrer beim besten Willen kein Platz mehr gewesen wäre. Früher, zu den Zeiten, als wir noch pendelten, wöchentlich zwischen Berlin und Wuppertal, hatte ich alle 2 Wochen regelmäßig das Auto voll mit Fahrgästen, die mir dabei halfen, die Fahrten zu finanzieren. Grob überschlagen waren das in den eineinhalb Jahren gut 200 Menschen, die mit mir gefahren sind, einige wenige sogar mehrfach. Die allermeisten waren recht angenehme Gäste, von ein paar Ausrutschern und den lästigen Fakern mal abgesehen. Ein paar Geschichten sind mir noch gut in Erinnerung, weil die Umstände eben nicht so ganz alltäglich waren. Hier nun ein Versuch, die „Spitzen“ mal zusammen zu schreiben. (Namen sind Schall und Rauch, natürlich habe ich die richtigen vergessen…)

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Sergej

Sergej steigt schon in Wuppertal zu, was nicht so oft vorkommt, die meisten Gäste sammle ich im Ruhrgebiet ein. Groß, stämmig, schwarzer, dicker Lodenmantel, Wollmütze auf dem Kopf, vom äußeren Eindruck her Mitte bis Ende Fünfzig Jahre alt. Sein Gepäck besteht aus einem kleinen Koffer und einer großen, gut gefüllten Plastiktüte, die laut scheppernd vorne mit ihm Platz nimmt. Der Inhalt, seine Wegzehrung, besteht aus kleinen Weinflaschen, so Drittel-Liter-Dinger. Sergej ist gesprächig und bester Laune, in Erwartung guter Geschäfte während eines Messebesuches in Berlin. Eigentlich ist er Immobilienmakler, sagt er, aber schnell wird klar, das er guten Geschäften aller Art nie abgeneigt ist. Bahn fahren wäre bequemer, sagt er, der Fahrpreis wäre ihm auch egal. Aber die Kontakte, die Gespräche unterwegs in den fremden Autos, die wären immer sehr viel fruchtbarer als auf jeder langweiligen Bahnfahrt, findet er.

Etwas verwundert komme ich auf die Wegzehrung zu sprechen, da doch allgemein bekannt sei, das Wein eben nicht zu den bevorzugten Getränken seiner Landsleute gehört. Da gibt er mir sehr recht, auch für ihn sei das natürlich eine Notlösung, aber die Hauskost aus vergorenen Kartoffeln bereite enorme Schwierigkeiten, sich in einer fremden Stadt zurecht zu finden, was gerade bei der Suche nach der Unterkunft nicht hilfreich sei. Einmalig auch der kleine Dialog über Alkohol so allgemein, der sich daraufhin entspannt. Auf meine Ansage, keinen Alkohol zu trinken, ist ihm sofort klar: Dann bist Du Alkoholiker! Eine andere Möglichkeit wird gar nicht erst in Erwägung gezogen, offensichtlich verzichtet sonst kein vernünftiger Mann auf gute Getränke, und ich nicke breit grinsend.

Die bis dahin Dritte im Wagen ist eine junge Asiatin. Nach einigen Smalltalk kommen die beiden auf das Thema Ernährung und entdecken Gemeinsamkeiten in der Kenntnis altbewährter Hausmittel, die gut den Doktor ersetzen können. So ist man sich einig, das Hundefleisch so ziemlich gegen alle möglichen Beschwerden hilft. Andere Länder, andere Sitten, denke ich, während es mich leise schüttelt.

In Hannover machen wir Pause, nicht die erste und nicht die letzte, irgendwo muss die Wegzehrung denn ja hin. Im Auto riecht es derweil wie in einem Weinkeller in den Mosel-Bergen. Ein junger Schwarzer steigt zu und ich bin schon ein wenig erleichtert, das Sergej, der übrigens gerade Ende Vierzig ist, sich sofort ausgezeichnet mit dem Jungen versteht. Geschäfte zeichnen sich ab, staunend höre ich, was sich da anbahnt. Der Schwarze kommt irgendwie an Zucker, viel Zucker, wie ich höre. Sergej kennt die nötigen Vertriebswege in den Osten, Pläne werden geschmiedet, Telefon-Nummern und Visitenkarten getauscht und so langsam verstehe ich, warum Sergej keine Lust auf Bahn fahren hat.

Angekommen in Berlin ist Sergej dann doch recht angenagt von der Wegzehrung, auch, wenn es nicht die erste Wahl ist. Wein in ausreichender Menge tut es ja auch und anregende Gespräche wirken leicht euphorisierend. Polternd und schwankend steigt er irgendwo in Neukölln aus und verabschiedet sich überschwänglich von mir, verbunden mit einer letzten Frage, ob ich wirklich nichts zu handeln hätte.

Voller Bedauern und lachend wünsche ich ihm guten Aufenthalt in der großen Stadt.

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Lisa

Sie klingt sehr jung, die Stimme am Telefon. Da frage ich mal nach dem Alter, sie ist 18, die Lisa, und möchte nach Exter an der A2. Wir vereinbaren einen für mich sehr guten Preis, darum hole ich sie auch ab, aus Sprockhövel, das ist den kleinen Umweg wert. Sie steht kurz vor ihren Abi und will zu ihrer Freundin für das Wochenende, üben, sagt sie, als sie mit ihren kleinen Rucksack und ihren Laptop zusteigt, am Haus ihrer Eltern. Die Mutter wünscht uns noch winkend eine gute Fahrt und los geht es.

Ausfahrt Exter, ich frage, wo ich sie denn absetzen solle. Die Freundin holt sie ab, sagt sie, nahe der Ausfahrt unter der Autobahnbrücke sei ein kleiner Parkplatz, da möge ich sie absetzen, sie könne da warten. Am Parkplatz angekommen, beschleicht mich ein flaues Gefühl im Magen. Von der Freundin ist weit und breit nichts zu sehen, mittlerweile ist es stockfinster. Es gibt noch nicht einmal Laternen unter dem Backstein-Viadukt. Dafür treibt sich allerhand zwielichtes Volk umher, Autos halten nur kurz nebeneinander an, die Scheiben geöffnet werden Päckchen gegen Scheine getauscht. Hier willst Du jetzt warten? frage ich und biete ihr an, sie in die Stadt zu fahren. Letztens am Tage hätte das hier noch ganz anders ausgesehen, sagt sie unschuldig und telefoniert noch einmal.

Man muss wohl 18 sein, um so zu ticken, denke ich, während ich die anderen Fahrgäste um Verständnis bitte, das ich jetzt hier warten werde. 20 Minuten später hält endlich der richtige Wagen und wir verabschieden uns.

Mein Magen hat sich wieder beruhigt, als wir die Fahrt fortsetzen.

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Karin

Karin, irgendwo so Ende Vierzig, steigt in Bochum zu. Etwas auffällig auf jugendlich getrimmt wirkt sie, mit ihren schwarzen, Totenkopf-besetzten Kopftuch, pinkfarbenen Klamotten und schwarzer Lederjacke. Aufgekratzt und offensichtlich sehr guter Dinge erzählt sie von der Vorfreude auf eine ganze Woche mit ihrem Liebsten in Berlin. So schön, so toll wäre das mit ihm, er tut wirklich alles für mich, schwärmt sie.

Es folgen in losen Abständen mehrere Telefonate mit dem Liebsten, in deren Verlauf die Karin immer einsilbiger wird. Offensichtlich ist der Gute überaus beschäftigt, hat noch nicht einmal Zeit, sie in Berlin irgendwo abzuholen. Das geht mich sicherlich nichts an, macht mich aber dennoch nachdenklich, so ein abrupter Stimmungswandel. Schließlich setze ich den Dritten im Bunde bei Hannover-Langenhagen ab und wir fahren zu zweit weiter. Kurz vor dem Abzweig der A7 nach Hamburg platzt sie plötzlich laut heraus:

Was ist, wenn wir zwei jetzt alle unser Pläne vergessen und uns zusammen ein tolles Wochenende in Hamburg machen?

Nicht doch, denke ich und verneine höflich das freundliche Angebot. So bleibt ihr nichts anderes übrig, als mit nach Berlin zu fahren. Sie fragt beim Abschied, ob nicht vielleicht ein Platz am Sonntag zurück frei wäre, was ich bedauernd verneine, alles bereits ausgebucht. Sie könne allenfalls am Samstag Abend mal nachfragen, ob vielleicht wer abgesprungen sei, das kommt vor.

Mein Mobilphon ist in dieser Zeit immer an, auch Nachts, der Fahrerei wegen. Samstag früh gegen halb fünf kriege ich den Signalton einer SMS mit, ob sie nicht doch mitfahren könne. Leider nein, wirklich sehr schade, und ich wünsche ihr Glück bei der Suche nach einem anderen Fahrer.

Die Vorstellung, welche Dramen sich dort in der Nacht wohl abgespielt haben mögen, beschäftigt mich nur kurz.

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Paul

Meist habe ich mindestens zwei Fahrgäste im Wagen, öfter mal auch drei. Mal kommt es aber auch vor, das nur einer mit fährt, der Absagen wegen. An einem solchen Tag sitzt Paul neben mir im Auto, ein etwas nervöser Mensch von vielleicht 30 Jahren. Es ist Sonntag, auf der Rückfahrt nach Hause, die Sonntage sind allgemein schweigsame Tage im Wagen, jeder hängt da seinen Erlebnissen vom Wochenende nach. So bin ich auch nicht verwundert über meinen einzigen, schweigsamen Fahrgast. Nach einigen Kilometern Autobahn geschieht es dann zum ersten mal:

WAHHAAA!

Dazu passend noch eine ruckartige Kopfbewegung zur Seite. Mir wird flau. Was für einen Psycho hast du dir denn jetzt an Bord geholt, frage ich mich. Und – noch viel eindringlicher- wie werde ich den jetzt gesund wieder los, denke ich, während ich frage, ob denn alles in Ordnung sei. Mein Nachbar hat den Farbwechsel in meinem Gesicht trotz Zwielicht wohl bemerkt und erklärt mir, ich möge mir keine Sorgen machen, er wäre medikamentös sehr gut eingestellt. OK, sage ich, na dann ist ja alles gut. Allein der Glaube daran fehlt mir.

Langsam entwickelt sich so etwas wie ein Dialog und ich werde aufgeklärt. So ganz ließe sich das ja nicht unterdrücken, meint er, aber es ginge mit den Pillen jedenfalls deutlich besser. Tourette-Syndrom, so hieße das, alles in Ordnung, ich bräuchte keinen Schreck kriegen. Reine Nervensache, meint er, und allmählich fange ich an, ihm zu glauben.

In der Tat entpuppt sich Paul als ein umgänglicher Zeitgenosse und nach einem weitern halben Dutzend WAHHAAA`s lachen wir beide gemeinsam.

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Gina

In Berlin verabredet sich Gina mit mir am Telefon. Sie will in Hannover zusteigen, am Sonntag auf der Heimfahrt. Mit der Uhrzeit ist das beim zusteigen unterwegs immer so eine Sache, der Verkehrslage wegen und wir vereinbaren, das ich sie eine Stunde vor der Ankunft in Hannover-Langenhagen anrufe, so das sie sich dann zeitig auf dem Weg machen kann.

An der Tankstelle ist weit und breit keine Gina zu sehen. Das ist seltsam, sie kam mir nicht wie ein Fake vor, alles klang recht überzeugend am Telefon. Auch nach mehrfachen Versuchen geht niemand dran und so warte ich, 15, 20 Minuten. Gerade will ich genervt abfahren, da ruft sie an. Großes Drama, sie hat ihr Handy im Hotel vergessen und musste noch einmal zurück. Nun kommt sie mit dem Taxi, Augenblick noch, gleich ist sie da. Aha. Nach weiteren 10 Minuten frage ich noch einmal nach. Der Blödian von Taxifahrer hat sie auf der anderen Seite der Schnellstraße an der Tanke abgesetzt, eben die falsche. Sie komme gleich um`s Eck, heißt es und da sehe ich sie auch schon strammen Schrittes sich der richtigen Tankstelle nähern.

Sie redet ohne Punkt und Komma, laut und weit ausholend. Nicht schlecht, denke ich, kann`ste das Radio auslassen. Gina ist eine höchst lebendige Mischung einer asiatischen Mutter und eines schottischen Vaters, vielleicht Ende Dreißig Jahre, und kommt gerade vom Date mit ihrem Liebsten. Der stammt aus Berlin, sie aus Düsseldorf, und der Gerechtigkeit wegen trifft man sich auf halben Wege, höre ich. Ok. Nach einigen Kilometern kommt dann nach einem Blick in die Geldbörse die Offenbarung. Sie hat nur noch fünf Euro in der Tasche, die ungeplante Taxifahrt hat offensichtlich das Budget zerrüttet. Macht nichts, sage ich, fahre ich dich halt in Wuppertal zu einem Geldautomaten deiner Wahl. Das kam schon öfter vor, ist lästig, aber nicht zu ändern. Kann passieren.

Die nächste Hiobs-Botschaft folgt. Ihr EC-Karte ist kaputt, leider. Aber – kein Problem, sie habe Freunde im Tal der Wupper, einige, sie werde telefonieren, irgendwer sei bestimmt bereit, ihr am Bahnhof die restliche Kohle vorzustrecken. Klasse, denke ich, während ich mich allmählich mit dem Gedanken vertraut mache, sie für Nüsse heim zu fahren. Sie an irgendeinem Rastplatz in der Dunkelheit raus zu werfen, bekomme ich nicht über`s Herz. Natürlich sage ich ihr davon nichts, um den Bemühungen um eine Lösung nicht den Schwung zu nehmen. So telefoniert sie bestimmt ein Stunde mit allen möglichen Leuten, bis der Akku leer ist. Keiner hat offensichtlich Lust, am Sonntag Abend spät seine Arsch hinaus in den Nieselregen zu bewegen und ihr mit einem Zehner auszuhelfen.

Am Bahnhof hier im Tal angekommen macht sie mir noch den interessanten Vorschlag, sie nach Hause in Düsseldorf zu fahren, da hätte sie noch Geld und für einen guten Kaffee wäre es ja auch nie zu spät. Mir schon, ich möchte in`s Bett und bin im übrigen eine treue Seele, auch ausgeschlafen. So gebe ich ihr der Form halber meine Kontonummer, sie schwört einen heiligen Eid, mir das fehlende Geld unmittelbar zu überweisen. Tatsächlich habe ich in zwei Tagen sogar 15 Euro auf meinem Konto, woran ich nicht wirklich geglaubt habe.

Auch eine treue Seele, die Gina.

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Andere sind nicht für kleine Geschichten gut, aber mir dennoch in Erinnerung. Der nervöse Japaner, den ich aus seinem Hotel abholen musste, weil er so ziemlich alles verpeilt hatte. Der untersetzte, junge Kerl mit dem unglaublich schweren Armee-Rucksack, der so metallisch schepperte, beim einladen. Sein dünnes Grinsen auf meine Bemerkung, ob das wohl ein zerlegtes MG sei. Ein unglaublich ungeduldiger Zeitgenosse, der sich Minuten-genau in Berlin verabredet hatte und von mir erwartete, ihn auch zeitig abzusetzen. Den jungen Theologie-Studenten, der mich mit seinem Gottvertrauen und seiner Lebendigkeit beeindruckte. Lange politische Gespräche mit einem sympatischen Kerl, der sich für im Gegenzug zu einem fundierten Studium für 12 Jahre beim Militär verpflichtet hatte. Die drei 14- oder 15-jährigen Jungs, die ich im Auftrag ihrer Eltern nach Dortmund gebracht habe, mit 3-stündiger Verspätung aufgrund Vollsperrung der Bahn. Der junge Geschäftsmann mit dem schnellen Auto, bei dem ich selbst mitgefahren bin. Seine Pläne, nach Sankt Petersburg zu ziehen, da seine russische Frau mit dem so geordneten bundesrepublikanischen Leben nicht klar kam.  Mehrere Anfragen zum alleinigen Gepäcktransport, Möbelstücke, ein Surfbrett, einmal sogar lebende Tiere ohne Begleitung. die ich allesamt dankend abgelehnt habe.

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Nicht zuletzt fällt mir ein Fahrer aus dem Kölner Raum ein, mit dem ich selbst zweimal mitgefahren bin. Seit fünf Jahren jede Woche Freitag nach Berlin und Sonntags wieder zurück, der Liebe wegen. Auf meine Nachfrage, wie lange er das denn noch machen wolle, antwortete er: Für weitere sieben Jahre, bis zur Rente. Schmeiß`ich doch keinen gut bezahlten Job hin, um mir von einem 20 Jahre jüngeren was sagen zu lassen, für die Hälfte. Seine Geschichte hat maßgeblich dazu beigetragen, das wir uns zeitig entschieden haben, wie und wo wir leben möchten.

Es ist schon irgendwie ein Ding für sich, mit wildfremden Menschen für 5,6,7 Stunden oder sogar länger in so einem engen Raum wie ein Auto nun einmal ist, unterwegs zu sein. Viele schlafen schlicht auf der Fahrt, mit anderen entwickelt sich so etwas wie Vertraulichkeit.

Unterhaltsam ist es in jedem Fall.

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Neujahr

Ein zufriedenes und gesundes neues Jahr 2015 wünsche ich uns allen hier an dieser Stelle leicht verspätet. Anbei ein paar Bilder unseres Neujahr-Spazierganges nach dem Frühstück, also pünktlich zum Sonnenuntergang…

Die „scharfe Lanke“ in Berlin-Spandau:

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Stachel im Fleisch 1

Es war irgendwann um 1968 herum, kurz vor oder nach meiner Einschulung. Die Stimme mit dem grünen Auge hatte gerade das Wohnzimmer verlassen müssen, das erste Transistor- Radio hatte Einzug gehalten. Meist lief Radio Luxemburg, was oft mit diversen Antennen-technischen Geduldprüfungen einher ging, da die Radio-Wellen nur schlapp bei uns im Tal ankamen. Radio Luxemburg hatte damals noch nicht den asigen Ruf von heute, sondern war eine gefragte Alternative zu den stinklangweiligen öffentlich-rechtlichen Sendern, von wenigen Ausnahmen dort mal abgesehen.

War mein Vater nicht da, lief die Kiste durch. In seiner Anwesenheit allerdings wurde der ganze neumodische Kram erst einmal aus- oder runter gedreht. Die Töne, die mir so sympathisch waren, in ihrem Kontrast zu den von meinem Vater so geliebten Heimat-Schnulzen und dümmlichen Schlagern. Pop-Musik eben oder in der Königs-Klasse Rock`N Roll.

Damals wusste ich natürlich nicht von solchen Band`s wie The Who oder den Stones. Von Woodstock schon gar nicht. Neben den viel versprechenden, fremden Klängen machten mich die Statements meines Vaters bezüglich der Musik und der neuen Zeit so ganz allgemein neugierig. Der war in seinem Innersten zutiefst erschüttert über die Welt da draußen. Revoltierende Studenten, die ersten Bombenleger, Straßenkämpfe, Randale. Rock`N Roll, das hörten für ihn nur die Gammler und Hasch-Raucher, wie er meinte, ohne mir das näher zu erläutern.

Irgendwie machte mir seine Ablehnung dieser ihm fremden Welt erst einmal Neugierde. Zumal es da noch diese Freundin meiner Mutter gab, mit ihren drei Kindern. Eines davon war seinerzeit bestimmt schon 16 oder so, also ein Jahrgang, den man heute als 68er bezeichnet. Lange Haare, Flicken-Jeans, rotzfrech und er hatte eine elektrische Gitarre samt Verstärker, mit der er wunderbaren Lärm produzierte. Einen Vater hatte der auch, allerdings nicht sein “richtiger”, selten zuhause, und wenn, dann mit Neigung zu Krawall. Jedenfalls war ich fasziniert von dem “Großen”, der kam mit seiner Gitarre dem mysteriösen Bild der verfluchten Gammler und Hasch-Raucher meines Vaters schon recht nahe.

Der Grundstein war gelegt, der Stachel im Fleisch saß. So wuchs ich also in die 70er Jahre hinein, dem Jahrzehnt, das an Schrägheit unübertroffen bleiben sollte. Laut, schrill, bunt, rückblickend mit seinen zahllosen Stilblüten an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten. Für einen mittlerweile 10-jährigen wie mich jedoch Faszination pur sowie absolutes Kontrastprogramm zum elterlichen Mikrokosmos.

* Fortsetzung *

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Stachel im Fleisch 2

Die 70er Jahre. Während bei Freunden schon Plattenspieler Einzug gehalten hatten (meist so ausrangierte Truhen aus den 50ern, 60ern) , musste ich mich vorerst noch mit einem Kassettenrecorder begnügen. Aufnahmen mit Mikrofon vom Radio und ständig der Ärger mit dem dazwischen-Gequatsche von Mal Sondock. Aber immerhin konnte man die Kratze mit raus nehmen und draußen aufdrehen, das ging.

Um 1972 herum zogen meine Eltern wieder einmal um, ich bekam einen neuen Nachbarn, vielleicht 4 Jahre älter als ich. Der lebte bei seiner allein erziehenden Mutter, hatte einen Plattenspieler sowie einen Bravo-Starschnitt von Suzi Quatro an der Tür, in Lebensgröße. Seine Bude wurde schnell mein zweites Kinderzimmer. Wir konnten ungestört Gary Glitter, Suzi & Co. hören und – rauchen ging auch, da seine Mutter ebenfalls qualmte, so hatte ich eine Ausrede für mein verstunkenes Zeug. Leider hielten diese seligen Zustände nicht all zu lange. Mit 13, glaube ich, nahm mich die Gang des Nachbarn mit zum saufen in den nahe gelegenen Talsperrenwald, was mir nur bedingt gut bekam. Der billige Rotwein aus den Zwei-Liter-Bomben machte mich Bewegungs-unfähig, die Burschen trugen mich aber netterweise noch bis vor die Haustür. Darauf hin fühlten sich meine Eltern verständlicher Weise genötigt, die Notbremse zu ziehen und erteilten mir Kontaktverbot mit dem spannenden Nachbars-Jungen.

Zuhause hielt sich das Verständnis für meinen Musikgeschmack in Grenzen. Poster aufhängen war z.B. nur eingeschränkt möglich. So hielt es Marc Bolan nur einen Nachmittag an der Wand, bis mein Vater ihn Abends entdeckte, entsetzt über mein neues Idol. Ganz konnten sich allerdings selbst meine Eltern nicht dieser Zeit entziehen. Immerhin waren sie damals im so genannten besten Alter von Mitte-Ende Dreißig und es gab ständig irgend etwas zu feiern im Familien-Freundes und Bekanntenkreis, der teils den Segnungen der Pop-Musik aufgeschlossener war. Und auch sonst. Gefeiert und reichlich getrunken wurde friedlich, laut und – lustig. Die tolle Stimmung an diesen Tagen stand im krassen Gegensatz zu der Alltags-Stimmung daheim, die ich damals als eher spannungsgeladen und geschwängert von einer getragenen Ernsthaftigkeit empfand. Ein leichtes Leben hatten die beiden jedenfalls nicht mit einander. Fatal sollten für mich die späteren Folgen dieses steten Wechsels der Stimmungen sein. Musik+saufen=lustig, so einfach schien das.

Anderswo schien die Welt lockerer zu sein. Einer meiner Schulfreunde hatte sein Zimmer ausstaffiert mit tollen ausrangierten Kram seiner Eltern inklusive Musik-Truhe, mit selbst gebastelten Boxen aus unzähligen Breitband-Lautsprechern vom Sperrmüll. Der wohnte damals nicht weit von hier nebenan auf dem Ölberg in einem alten Gründerzeit-Kasten. Wir hatten einigen Spaß mit einander, auch schienen seine Eltern bedeutend lockerer drauf zu sein als meine. Vor einigen Jahren trafen wir uns mal wieder und er versicherte mir, das seine Eltern damals sozusagen einen Schalter umlegten, sobald wer zu Besuch kam und es ansonsten ebenso eher wenig lustig war. Der schöne Schein eben.

Mit 15 war es dann endlich soweit. Ich wurde erhört und bekam die alte, ausrangierte Stereoanlage meines Onkels geschenkt. Tatsächlich habe ich ein Bild von dem Ding im Netz aufgetrieben, ein so genanntes Bolero-Studio von Telefunken, ohne Lautsprecher, was aber nicht weiter tragisch war. Wie man sich auf dem Sperrmüll mit dem Nötigsten versorgte, inklusive der Verdrahterei, das wusste ich ja.

 bolero

Nicht schön, aber laut war das Teil, und ich konnte endlich mein Taschengeld in Schallplatten investieren. Inspiriert vom Musikgeschmack meines Kumpels war meine erste Platte allerdings kein Pop, sondern handfester Psychedelic-Rock  von Pink Floyd. Wir waren begeistert von deren Musik zum Träumen, zum drauf abfahren und auch von dem perfektionistischen Gebaren der Band damals. Erste Eindrücke einer Parallel-Welt taten sich uns auf, eine Flucht, die mich lange begleiten sollte, auch wenn ich damals noch sehr wenig trank und Drogen mir (noch) komplett fremd waren. Die Musik jedenfalls war fantastisch und ist es bis heute geblieben:

 

Fortsetzung

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Stachel im Fleisch 3

1978. Ein Jahr, in dem sich eine ganze Menge änderte, in meinem Leben. Die Schule hatte ich endlich abgeschlossen, mehr schlecht als recht, aber, wenn man so will, schon zielorientiert. Mein einziger Ehrgeiz bestand damals darin, dieses Schüler-Dasein nicht durch sitzen-bleiben zu verlängern, dem entsprechend sah dann auch der Abschluss aus. Einen Beruf galt es zu lernen, meine Traumberufe blieben aufgrund meines herausragenden Abschlusszeugnisses eben Traumberufe. Meinen schlussendlich erlernten Beruf habe ich dann auf anraten meines Vaters gewählt, wofür ich ihm auch heute noch dankbar bin.

Die Lehre. Wir waren damals zu dritt, in unserem Jahrgang. Einen kannte ich aus der Grundschule noch, wir waren mal Nachbarn, wenn auch aus sehr ungleichen Verhältnissen, so mochten wir uns doch. Der andere wohnte sozusagen um die Ecke von mir, wir zwei wurden schnell recht dicke mit einander. In unserem Dorf hatte mein neuer Kumpel eine große Clique, alles ehemalige Messdiener in der erzkatholischen Gemeinde, was ich witzig fand, weil die Jungs eben gar nicht so heilig waren. Im Gegenteil. Wir trafen uns regelmäßig Freitags Abend zum saufen und abrocken, was sich später dann  immer öfter auch mal bis Sonntag Mittag hinzog. Immerhin waren wir ja mittlerweile wer. Unser Lehrlings-Dasein mit bescheidenen Einkünften, die ersten Autos, die ersten Frauengeschichten. Wobei die bei mir zu der Zeit eigentlich so gut wie keine Rolle spielten. Das sollte erst viel später kommen, dann aber umso heftiger.

Mein einziges Ziel bestand damals darin, diesen Beruf zu erlernen, um endlich zuhause abzuhauen. Selbst haushalten, ohne zu wissen, wie und in welche Richtung, Hauptsache raus. Was immerhin mit langsam einsetzenden Ehrgeiz verbunden war. Wenn die Pflicht gerade mal nicht rief, wurde gefeiert, und wir waren in unseren Dorf da alle gleich unterwegs damals. Selbst zuhause wurde mein liederliches Leben toleriert, weil ich ja jetzt arbeiten ging. Und solange Sonntag Mittag Schluss war und ich Montags wieder raus kam, war es meinen Eltern zähneknirschend recht. Das Bild der Gammler und Haschraucher meines Vaters wurde also langsam von mir revidiert. Zum einen der Erkenntnis sei Dank, das man Freiheit, Bier und Fusel auch bezahlen muss, zum anderen zog Haschisch erst zeitversetzt in die Zentren meiner Gier ein.

Zu feiern gab es also einiges. Musikalisch untermalt wurde das, nachdem der Glamrock sein kurzes und grelles Dasein ausgehaucht hatte, von dem erklecklichen Nachlass und für mich neue Töne, Hardrock a la ACDC zunächst und später dann Punk und Metal. Nina Hagen,  Marius Müller-Westernhagen, ab `79 dann auch Jürgen Zeltinger und BAP schepperten aus den Low-End-Anlagen in unseren Buden, wenn uns das Geld für die Kneipe ausgegangen war, was schon zeitig im Monat der Fall war. So langsam fand ich Gefallen an meinem Leben, damals natürlich nicht ahnend, worauf ich mich da einließ. Breit sein war Erlösung und Geschenk zeitgleich und Spaß hatten wir mit einander, so wie später selten wieder.

Altes neu verpackt kam auch sehr gut, und der Dicke ließ uns Köln sehen…

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– Fortsetzung

Stachel im Fleisch 4

1981. Sozusagen über Nacht, nach bestandener Gesellenprüfung, wurden wir zu „Herren“, wie der Betriebsleiter unseres Lehrbetriebes meinte, als er vom trauten Du zum Sie hin wechselte. Meine lang ersehnte Freiheit, oder besser das, was ich mir darunter so vorstellte, damals, rückte immer näher. Im Lehrbetrieb hielt ich es als Geselle noch ein Dreiviertel Jahr aus und fast zeitgleich mit dem Stellenwechsel zog ich im Frühjahr `82 in meine erste, eigene Bude.

Wie also sah sie aus, meine Freiheit? Austoben. Jedes Wochenende war irgend etwas los, ich bewegte mich in von einander sehr verschiedenen Gesellschaften, an manchen Samstagen mehrere hintereinander, wohl überlegt, in welcher Folge. Gras und Dope waren mittlerweile ständige Begleiter geworden, damit meinte ich mich auf den Straßen ganz gut bewegen zu können. Der Ahnungslosigkeit mancher Polizisten damals sei Dank, das mir der Führerschein erhalten blieb. Und meinen Schutzengeln sei Dank, das niemand zumindest körperlich durch meine Art zu leben damals zu Schaden kam. Meist landete ich zum Schluss bei meinen Kumpanen im Dorf, aus dem ich gerade ausgezogen war. Hier konnte ich mir gefahrlos den Rest geben, pennen konnte ich immer irgendwo, friedlich, das hieß, ohne Gefahr zu laufen, sturz-voll auch noch ausgemistet zu werden. Mein Glück damals war, das zwischen den vielen Gleichgesinnten in Sachen Alkohol und Drogen immer wieder auch Menschen waren, die anders lebten. Mit denen sich Freundschaften entwickelten, die zum Teil bis heute halten.

Einerseits kostete ich meine „Freiheit“ also in vollen Zügen aus, exzessiv und gründlich. Die Leine allerdings, an der ich mich geglaubt hatte, war keineswegs zerschnitten, sie wurde nur länger und unsichtbar. Die Worte und Werte von zuhause. Die mir angstbesetzt im Nacken saßen, aber, mal positiv betrachtet, immerhin dazu beitrugen, das mein Leben nicht vollends in Richtung Bohème  driftete.

So ging das in etwa zwei Jahre lang. Bis mich mein Grundschul-Freund und ehemaliger Mit-Lehrling davon überzeugen konnte, mich weiter zu bilden. Uns beide verbanden ansonsten eher gemeinsame, versumpfte Abende und verrückte Aktionen im dichten Schädel, er allerdings schickte sich ernsthaft an, via Studium irgendwann den väterlichen Betrieb zu übernehmen. Ein Studium kam für mich nicht in Frage, so entschied ich mich zu einer berufsbegleitenden Weiterbildung. Vier volle Jahre sollte das dauern, drei Abende die Woche Schule, dazwischen Vorbereitung auf Klausuren, Hausaufgaben. 8-Stunden Job mit gelegentlichen Überstunden, ein Leben aus Tasche und Koffer zwischen Arbeit und Schule. Ehrlicherweise habe ich selbst nicht daran geglaubt, das zu schaffen, aber nachdem das erste Semester herum war, ließ mich das nicht mehr los. Am Anfang waren wir über 30, am Ende noch 14, glaube ich. Wenn ich mir wegen fehlender Zeit mal ein wenig leid tat, erinnerte ich mich an ein paar Schulkollegen, die quasi nebenbei noch Kinder zeugten und Häuser bauten.

Alles war eine Frage der Struktur. Arbeit, Schule, das Recht auf Rausch, auf Betäubung, Belohnung für die Heldentaten. Der Freitag war stets frei gehalten zum intensiven kiffen und saufen, selbst unter der Woche, nach der Schule ging es manchmal noch für ein paar Stunden einen Kumpel besuchen. Kondition hatte ich, wie man sie wohl auch nur in diesen Jahren hat. Dazwischen immer mal wieder ein Stellenwechsel, mal freiwillig, mal gezwungener Weise. Dazu kam noch meine damalige Mitgliedschaft beim technischen Hilfswerk, anstelle Militär. 10 Jahre Verpflichtung, einmal im Monat ging dafür ein Samstag drauf. Wobei nach einer kurzen Schamfrist die Abkürzung THW für mich und meinesgleichen schnell umgedeutet wurde. Trinken-Helfen-Weitertrinken. Ein völlig loser Tag in einem ansonsten Stress-gefüllten und Arbeits-überladenen Monat. Sinn-frei, die wenige Arbeit, die es für uns gab, war meist nach 1, 2 Stunden erledigt und so waren wir morgens um 10 meist schon voll. Ein Tag jenseits von gut und böse also.

Mitten in dieser Zeit lernte ich meine erste, „feste“ Freundin kennen. An dieser Stelle weiter zu schreiben, verursacht mir (immer noch) Unbehagen. Wir zogen aus gegebenen Anlass sehr schnell zusammen, während der ersten zwei Jahre hatte ich ja gute Gründe für die wenige Zeit, die ich für sie hatte. Die Arbeit, die Schule, ja. Nachdem die Schule dann `88 endlich zu Ende gebracht war, fiel ich leider zurück in alte Gewohnheiten in Sachen feste Feiern. Für mein Verhalten damals bekam ich viel später die Rechnung präsentiert, nichts bleibt folgenlos, wenn man solcher Art durch`s Leben geht. Während sie im Grunde nur Geborgenheit und Nähe suchte, forderte ich Verständnis für meine Gier. Absolution wird mir dafür in diesem Leben nicht mehr erteilt.

Damals  jedoch waren mir jede Selbstzweiflel fremd. Anfang der 80er hatten sich nebenan in Düsseldorf die toten Hosen erfunden und nichts beschreibt das Lebensgefühl dieser Zeit besser als das kleine Lied weiter unten. Meinesgleichen gab es einige und obwohl wir rein äußerlich zumindest irgendwo im Leben angekommen waren, ging es an manchen Tagen genau anders herum zu.

Über allem stand in großen Buchstaben: WOFÜR?

Fortsetzung

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Stachel im Fleisch – Intermezzo

Der letzte Eintrag schließt Ende der 80er Jahre. Enttäuscht sind möglicherweise nun wohl eher diejenigen, welche aus den ersten Einträgen auf den Themen-Schwerpunkt Musik / Rock`N Roll geschlossen haben und anstelle dessen nun eine Art Lebensgeschichte mit der Haupt-Thematik Sucht vorfinden. Hier kann ich versichern, das für mich beides schon in gewisser Weise zusammen gehörte, damals zumindest. Heute ist das natürlich anders, sonst könnte ich ohne Durst an keinem Radio vorüber gehen. Musik hat heute für mich den Stellenwert, der ihr zusteht. Den der Unterhaltung, Zerstreuung, Katalysator zum nach- und aufspüren, kanalisieren von Stimmungen hauptsächlich. Schlicht Spaß daran haben, auch, wenn vieles Erinnerung-behaftet bleibt, positiv wie negativ.

Einige Schwierigkeiten gibt es derzeit beim weiter schreiben, den fünften Teil eben, der in die 90er Jahre geht. Ein für mich sehr ereignisreiches Jahrzehnt. Wie fasse ich solche Jahre auf ein paar Seiten zusammen, reduziert auf ein diesem Blog angepasstes Format. Wie den roten Faden behalten und mich eben nicht in zahllosen Details zu verlieren. Selektieren all das, was aus den Tiefen so aufsteigt – was genau davon kann hier preisgegeben werden und was nicht, gerade auch mit Blick auf die Wahrung der Anonymität anderer. Auch, wenn nirgendwo Namen auftauchen – das Bergische Land ist ein etwas größeres, gallisches Dorf und manch geneigter Leser weiß sowieso, wer hier wo gemeint war.

Andere Schwierigkeiten stellen sich hingegen eher nicht. So bin ich weder eine sogenannte Person des öffentlichen Interesses, noch beabsichtigte ich, in diesem Leben weiter führende Karriere zu machen. Weiter wird es also gehen, wie und wann auch immer.

– Fortsetzung- 

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Stachel im Fleisch 5

Die 90er – sie standen zunächst für mich im Zeichen der Sehnsucht und der Sinn-Suche. 1990 lernte ich die Mutter meines Sohnes kennen. Familie, Nähe, Stabilität, einen Sinn machen. Ein „bürgerliches“ Leben, wie man so sagt. Mit regelmäßigen Unterbrechungen durch gekonnt inszenierte Alkohol-Exzesse. Gleichgesinnte Zeitgenossen fanden sich irgendwie immer und es gab ja auch noch die Jungs aus dem Dorf, deren Trinklaune immer noch über jeden Zweifel erhaben war. Regelmäßige Fluchten aus einer Welt, die mir zunehmend eng erschien.

Im Kern sind diese Jahre schnell berichtet. Details spare ich hier aus, mit Rücksicht auf andere Beteiligte. Es konnte nicht wirklich gut gehen – folge deinem Muster, heißt es. Oft habe ich mich gefragt – und bin auch oft gefragt worden, ob meine erste Ehe gehalten hätte, wenn ich nicht getrunken hätte. Eine Frage wie eine Bananenschale, man rutscht schnell darauf aus, weil der Konjunktiv ein glattes Parkett sein kann. Heute weiß ich, zu der Zeit, als die Unterschiede zwischen uns so deutlich wurden, das sie nicht mehr zu übersehen waren, wäre es Zeit gewesen, zu gehen. Aber ich sollte bleiben, lernen, und – meinem Sohn das Leben geben.

Ende `98 kam dann, was kommen sollte: Die Trennung, Auszug in ein Haus unweit unserer alten, gemeinsamen Wohnung. Mit Nachbarn, die mir ähnlich sahen. Viele Allein-Stehende, überwiegend Männer, alle irgendwann mal hart aufgeschlagen im Leben. Und – die meisten von ihnen tranken, beste Gesellschaft also für mich, der ich mich jetzt in meinem Selbstmitleid suhlen konnte und mit Alkohol sowie auch wieder Haschisch haushalten konnte, wie ich wollte. Neben dem exzessiven Trinken und Kiffen trank ich mittlerweile täglich, nach der Uhr, sozusagen. Jeden Abend, meist allein, aber auch in der vorhandenen, passenden Gesellschaft damals.

Fatal war für mich die Erkenntnis, mittels Alkohol und Dope nicht mehr in meine geliebte Parallelwelt gelangen zu können. Es reichte, wenn überhaupt, gerade noch für eine kurze Zeit der scheinbaren Ruhe vor mir selbst, Das einzige, was mir dazu einfiel, war mehr davon, etwas anderes kannte ich ja nicht. Nur war ich mittlerweile fast 38 und keine 20 mehr, mit dementsprechend nachlassender Kondition. Ausgestattet mit einer wund geschossenen Seele, die sich nicht mehr betrügen lassen wollte von Stoff-gebundenen Parallelwelten. Eine Seele, die nach Wahrhaftigkeit schrie und anstelle dessen immer noch zugeschüttet wurde. Am Ende selbst Nachts, trinken gegen die Alpträume.

Grenzbereiche und Nebenkosten der Sucht , wohin ich auch sah. Ein Leben auf der Kippe, mit allen dazu passenden Begleiterscheinungen. Ohne Selbstachtung und ohne Würde, dafür mit der Aussicht auf Verlust der Arbeit, die ich nicht mehr ausfüllen konnte. Eine kranke und selbstzerstörerische Liaison mit einer Medikamenten-abhängigen Frau, deren einziger Sinn wohl darin bestehen sollte, das ich anfing, mich für Therapie-Möglichkeiten zu interessieren. Anfang 2000 dann eine Nacht, in der ich alles in mich hinein fuhr, was vorhanden war. Wein, Wodka, böses niederländisches Gewächshaus-Gras, das mit dem harmlosen Zeug der 80er nichts mehr zu tun hatte. Kreislauf-Kollaps mit eiskaltem Schweiß und einem wie irre schlagenden Herzen. Todes-Angst und kein Gedanke daran, mir Hilfe zu holen.

Hol`mich doch, wenn Du mich haben willst…

Am nächsten Morgen gab es mich immer noch und ich wusste, das war die letzte Warnung. Der da oben hatte mich diese Nacht überleben lassen, verbunden mit der tiefen Gewissheit, das eine Wiederholung die letzte sein könnte. Endlich begann ich ernsthaft, mich für Hilfe zu interessieren. Eine ambulante Therapie konnte beginnen, ich konnte vom trinken lassen, fand den Weg zu den anonymen Alkoholikern, denen ich bis heute in Dankbarkeit verbunden bin. Seit dieser Zeit feiere ich am 28 Februar meinen zweiten Geburtstag, dem Tag, an dem ich zum letzten mal trinken musste.

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Epilog

Stachel im Fleisch – Epilog

Wie hast Du das geschafft? So werde ich manchmal gefragt. Wie bist Du trocken geblieben, nach so langer Zeit? Zu Beginn stand die Entscheidung für das Leben, für mein Leben. Die erste große Kapitulation, die vor meiner Unfähigkeit, mit Alkohol und anderen bewusstseinsverändernden Mitteln umzugehen. Es sollte nicht die letzte Kapitulation sein, aber ziemlich sicher die wichtigste.

Sehr viel Zeit war auf einmal frei geworden. Zeit, die ich bis dahin mit saufen verbracht hatte. Das war die erste große Überraschung, festzustellen, wie viel Zeit ich eigentlich hatte. Eine riesige, nervöse Leere, die irgendwie gefüllt werden wollte. Nächte lang lief der Fernseher durch, bis sich so etwas wie ein geregeltes Leben einstellte, vergingen Monate. Bei den anonymen Alkoholikern hatte ich gelernt, mein Leben in 24-Stunden-Abschnitte einzuteilen. Heute das erste Glas stehen zu lassen. Manchmal habe ich diese an sich überschaubare Zeit von einem Tag sogar noch verkürzt, bis hin zu jetzt nicht. Überhaupt hörte ich dort keine Tiefen-psychologischen Erklärungen für meine Zustände, sondern kurze, schlüssige Weisheiten, die ich sofort verinnerlichen und in mein Leben einbauen konnte. Hab`Geduld mit dir! So hörte ich, und die damit verbundenen Menschen klangen nicht nach Phrasendrescher vom Tresen. Sätze, die gerade in der ersten Zeit unglaublich hilfreich waren, wenn Unruhe, Leere und Nervosität mich umtrieben.

Veränderungen im äußeren Leben standen an. So verließ ich erst einmal die Stadt, eine neue Wohnung, weg von dem mir so vertrauten, klatschnassen Umfeld. Schon nach kurzer Zeit war mir ein Meeting die Woche zu wenig, zeitweise ging ich fast täglich Abends in irgend ein Meeting. Die neuen Freunde taten mir alles in allem sehr gut, mit ihren Erfahrungen und mit ihrer Nähe. Zudem hatte ich das unwahrscheinliche Glück, in meinem damaligen Stamm-Meeting einem ehemaligen Sauf-Kumpan zu begegnen, der den Weg in die Trockenheit schon viele Jahre vor mir geschafft hatte. Dieser Mensch war gerade in meinem ersten Jahr sehr um mich bemüht, wofür ich heute noch dankbar bin.

Viel Zeit habe ich am Anfang damit verbracht, mir mein bisheriges Leben anzuschauen. Erklärungen finden und mich selbst dabei manchmal einfach nur auszuhalten. Meine Scham über einiges, was ich gelebt hatte ebenso wie die Wut auf Menschen, von denen ich glaubte, das sie mir wesentliches vorenthalten hatten. Es sollte lange dauern, bis ich Frieden finden konnte, gerade auch mit meiner Familie. Ohne meine neuen Freunde hätte ich das wahrscheinlich nicht geschafft und wäre ziemlich sicher schnell in alte Muster zurückgefallen. Du schaffst es nicht allein, aber nur Du allein schaffst es. Auch so eine seltsame Weisheit, die mir zunächst ziemlich blöde in den Ohren hing. Es stimmt schon, das Leben leben kann jeder nur für sich, eigenverantwortlich,  aber dennoch in passender Gesellschaft, eben geistige Verwandtschaft, die sich jeder aussuchen kann. Damals wie heute ist das für mich wichtig. Zu Beginn waren es manchmal nur 5 oder 10 Minuten lange Telefon-Gespräche, die mich wieder beruhigten in manchen Zuständen von Unsicherheit, Angst und Unruhe. Mich selbst auszuhalten sollte ich erst mühsam lernen.

Langsam kamen neue Eindrücke, neue, Erfahrungen in mein Leben. Ein unwahrscheinlich starkes Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, verbunden mit einer großen Neugier auf alles mögliche, was es zu entdecken galt. Noch einmal trocken Orte der Vergangenheit aufsuchen, verbunden mit der Freiheit, gehen zu können, wann es mir beliebte. Eben ohne den Rausch mit einplanen zu müssen, nicht mehr Auto fahren zu können, nicht mehr Herr meines Geistes zu sein, mit allen damit verbundenen Zu- und Umständen. Vieles glich gerade in den ersten Jahren einem Ausschlussverfahren, Versuch und Irrtum, das, was mir gut tat, sollte bleiben. So eine Art interaktives Annähern an dem, was zu mir passen sollte, ein Prinzip, was sich in allen möglichen Aktivitäten ausdrückte wie Musik, Vorlesungen, Ausflüge, VHS-Seminare oder die Beschäftigung mit Religion, mit dem, was Spiritualität genannt wird. Selbst mein Verhältnis zum anderen Geschlecht sollte nach diesem Muster verlaufen, aber das ist eine Geschichte für sich.

Langsam lernte ich, Vertrauen zu fassen. Zu glauben an eine Sinn, der mich hatte überleben lassen. mich allmählich geborgen und getragen zu fühlen von einer Macht, größer als ich selbst. Von Gott, wie ich ihn verstehe, und das ist nicht die strafende Urgewalt früherer Zeiten, der jedem das seine zukommen lässt, sondern einer der mich liebt, so wie ich bin. Der mich lernen ließ, das Leben anzunehmen und bei aller zeitweisen Schwere das Lachen und die Freude am Leben wieder zu entdecken.

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Jeder kennt einen oder kennt einen, der einen kennt, der zuviel trinkt. Manchmal handelt es sich dabei sogar um ein und die selbe Person 😉 All denen möchte ich an dieser Stelle Mut machen, Mut auf ein neues Leben ohne Bewusstseins-verändernden Mittel, auf ein Leben abseits der mit der Sucht verbundenen „Nebenkosten“. Mut, sich Hilfe zu holen in irgend einer Gemeinschaft, die Auswahl ist groß geworden hier. Anonyme Alkoholiker, der Kreuzbund, das blaue Kreuz, zahlreiche Freundeskreise Suchthilfe bieten umfangreiche Angebote.