Morgenstunde

Eine klebrige, schwüle Nacht liegt hinter mir, 26 Grad um 5 Uhr früh. Auf dem Weg zur Arbeit fällt mir eine kleine Episode von gestern Morgen ein. Der Weg führt durch einen alten, sehr engen kleinen Tunnel, der zu Zeiten von Pferdefuhrwerken gebaut wurde. Links und rechts der schmalen Passage gibt es „Fußwege“, die den Namen nicht wirklich verdienen, weil gerade 20 cm breit. Und als ob dies noch nicht reichen täte, hat die Stadt Wuppertal diese schmalen Wege noch mit hervor stehenden, so genannten Leuchtnägeln versehen, auf dass auch der dümmste Autofahrer weiß, wo die Straße seitlich begrenzt ist. Feine Stolperfallen für Fußgänger, die auf diesem schmalen Grat eh schon um Gleichgewicht ringen.

Gestern früh also bin ich kurz vor der Passage, sehe weit hinter dem Tunnel ein Auto auf der Straße stehen. Ok, der hat Zeit, denke ich und laufe los. Das Auto setzt sich in Bewegung und fährt in den Tunnel ein, gerade, als ich mitten drin bin. Ich bleibe auf der Fahrbahn und schaue mal, wie es weiter geht. Meinem Gegenüber ist das wurscht, er fährt zügig weiter.

Du dummes, rücksichtsloses Arschloch, denkt es in mir. Kannst nicht eine Sekunde draußen warten, bis ich heraus bin. Was glaubst du eigentlich, wer eher auf Erden war, Autos oder zu Fuß gehende Menschen… Und so flüchte ich mich mit meinem XXL-Rucksack, der die Tageszehrung sowie den gefühlten halben Hausrat beinhaltet, auf die schmale Steige, hart an die dreckschwarze Tunnelwand. Es ist warm, der Kerl hat das Fenster auf, wortlos schauen wir uns an, während er langsam weiter fährt. Wahrscheinlich hat es meinerseits auch keine Worte gebraucht, um verstanden zu werden, unmaskiert, wie ich um diese Zeit meiner Wege gehe.

Kleinigkeit? Ja, schon, auf dem ersten Blick. Beim näheren hinschauen eher nicht, spiegelt es doch einen Teil meiner so genannten Lebens-Herausforderungen wieder. Der alte Adam möchte, übellaunig, wie er ist, am frühen Morgen, ohne Frühstück im Bauch, mit gezieltem Tritt Spiegel abtreten und zornig aussteigen wollenden Fahrern die Ohren lang ziehen und die Beine brechen.. Der andere, eher friedfertige Teil in mir wundert sich, man hätte ja auch mit einem freundlichen Lächeln einen guten Morgen wünschen können. Hätte. Irgendwo dazwischen liegt das, was man Realität nennt, also dieser Mordblick, der potentielle Kommentare im Keim erstickt. Nächstenliebe geht irgendwie anders, denke ich. Gibt wohl noch so einiges zu tun.

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15 Gedanken zu „Morgenstunde

  1. Anhora

    Am frühen Morgen sind bei mir die Urinstinkte auch stärker als der zivilisierte Teil in mir. Manchmal bleiben meine Urinstinkte sogar tagsüber erhalten. Je nachdem, was auf mich einstürmt.
    Neulich hatte ich einen so starken Impuls, jemandem eine Salatschüssel auf den Kopf zu schlagen, dass ich es beinah getan hätte. Es war zwar eine Plastikschüssel, trotzdem erschrank ich vor mir selbst.
    Hab einen schönen Tag!

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  2. Regine

    Nein, alleine bist Du nicht. Aktuell wünsche ich meine Nachbarn zum Mond. Leider kommen sie morgen aus dem Urlaub zurück und dann wird es wieder turbulent. Die sitzen dann nächtelang mit ihrem Rudel auf der Terrasse und erzählen sich was und ich verstehe jedes Wort und will das nicht. Oder sie sitzen morgens um 6.00 draußen beim Frühstück und erzählen sich was und ich muss schnell das Fenster schließen, damit ich nicht jedes Wort hören muss. Und abends dann das Gleiche, sie sitzen und erzählen sich etwas. Ich denke schlimme Schimpfworte und freue mich, dass ich mir wenigstens einen Sichtschutz gegönnt habe, der gestern aufgebaut wurde.
    Es war so schön ruhig hier, jetzt muss ich mich wieder an die lauten, munteren Stimmen gewöhnen.
    Und manchmal denke ich: Ach wäre das schön gewesen, mein Mann hätte sich auch so ausdauernd mit mir unterhalten. Ich mag meine Nachbarn nicht so besonders, aber als Paar sind sie unschlagbar.
    Liebe Grüße und schönes Wochenende! Regine

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    1. Reiner Beitragsautor

      Wir wohnen in einem bunt gemischten Kiez mit vielen Osmanen, Osteuropäern, einigen Schwarzen. Es ist laut und je nach Windrichtung zieht uns der fette Grilldunst in die Bude. Dennoch lieben wir diese Ecke der Stadt – besser als bürgerlich. Die sind oft schlimmer 🙂

      Danke & auch dir ein gutes Wochenende!

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  3. Melina

    Lieber Reiner, ach da hör ich vielerlei heraus aus Deinem Bericht: Morgenstunde 😉
    Ja, Herausforderungen nenne ich das auch…. Vor kurzem hatte ich zwar etwas ähnliches erlebt – wenn auch völlig anderes – in unserer Morgenrunde…. da war eine „Besserwisserin“ dabei – neu für mich – kannte ich noch nicht…. sie hat etwas, was ich sagte ‚bewertet‘ (was im Kurs in Wundern eigentlich vermieden wird oder werden sollte), das hat mich getriggert (merkte ich aber noch nicht sofort – da brauch ich immer ein paar Sekunden dafür) und ehe ich reagierte bzw. reagieren konnte – sprachen schon die anderen das Thema mit der Bewertung an und zwar auf eine ganz sachliche und trotzdem liebevolle Art (die ich im Nachgang als einen Einspruch oder Zurechtrückung dieser Person einordnen kann, die sie – ‚die Angreiferin‘ ohne dass sie ihr Gesicht verlieren musste) – einen wichtigen Hinweis erhielt. Und mich enthob es einer Verteidigungsreaktion und fühlte mich sehr wohl, dass andere da waren, ich musste nicht auf das ‚Getriggertwerden‘ einsteigen, war sozusagen in Frieden.
    Aber das Interessante war, dass ich danach mit einem Mal bemerkte: Oh, ich hatte diese Person eigentlich zuerst angegriffen, denn ich erinnerte mich daran, als ich sie während der Videosession (im Kurs in Wundern) zuerst erblickte, dass ich dachte: Die ist mir unsympathisch und meinen verhassten Geburtsnamen trägt sie auch…. Ich hatte sie in Gedanken ohne sie zu kennen und ihre Absichten bereits zu Beginn gewertet auf eine nicht mir zustehende Art des Urteils bereits gedanklich bewertet, die offensichtlich ankamen.
    Eine wunderbare Lektion für die Praxis im Kurs in Wundern und der Achtsamkeit auf den Fokus, wie machtvoll unsere Gedanken sind.
    Ich hoffe das war nachvollziehbar (und nicht zuviel ;-))

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  4. Anyone100

    Wie schön zu erfahren, dass ich nicht alleine bin mit genau diesem Problem.
    Zu Anbeginn eines jeden Monats schreibe ich meine Schwächen auf, die es zu korrigieren gilt, und jeden Monat gibt es einen Übertrag was das Thema „freundlich bleiben – nicht ärgern“ angeht.
    Seufz…werden wohl noch sehr viele Überträge sein, fürchte ich. 🙁

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      1. Aloisia Eibel

        Nein meine Lieben. alleine seid ihr nicht! Beides ist in uns. Ja, ich kenne sie die beiden Seiten, ich kenne auch Begegnungen, bei denen ich gleich negative Gefühle gegen einen anderen hegte, ähnlich wie Melina sie beschrieb. Tja, sie bemerken und begrüßen, statt sie mit Mordblick oder giftigen Seitenblicken zu begrüßen? Schließlich gehören sie auch zu uns und wenn es sein muss, kann man auch anders, nämlich Zähne zeigen und sich wehren. Ist ja wichtig, halt nur im richtigen Augenblick. Ich meine allein dass diese Empfindungen aufgeschrieben würden hilft schon. Habt alle eine gute Zeit! Die Gärtnerin mit dem gruenen Daumen

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        1. Reiner Beitragsautor

          Eine Freundin von der Wupperpostille schrieb mir dazu aus der Seele:
          Reptilienhirn. Weiter sind wir noch nicht wirklich…erschreckend.

          Aggressionen liebevoll anzunehmen ist wohl eine der schwersten Übungen. Sehr hilfreich dabei ist, zu schauen, wo sie ihren Ursprung hatten. Meist sitzt die Angst dahinter.

          Schön, dich wieder zu lesen, liebe Aloisia 🙂

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          1. Reiner Beitragsautor

            Ich kann mich erinnern, weiß aber nicht mehr, wo er stand. Das las sich jedenfalls positiv, was mich sehr für dich, für euch freut!

    1. Reiner Beitragsautor

      Hast einen reichen Fundus zum stöbern!
      Und…ich lese gerne Berichte aus „erster Hand“, was die Altenpflege angeht. Wobei „gerne“ nicht mit „gefällt mir“ verwechselt werden darf.

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