Noch eine Nachbarschaftsgeschichte

Gegenüber, unten, auf Parterre gibt es eine kleine Wohnung. Sie ist so ein typisches Refugium für frisch Getrennte oder gerade eben erst flügge gewordene junge Menschen. Lange bliebt bislang dort niemand, es sind nur zwei kleine Zimmerchen und es ist relativ laut. In all den Jahren, die ich mittlerweile hier wohne, ging es herein und heraus dort. Spätestens nach zwei oder höchstens drei Jahren stand sie wieder leer, für eine Weile. Keiner bleibt wirklich gerne allein und, wie gesagt, es ist halt laut dort.

Unfreiwillig kann ich das Geschehen dort gut einsehen, wenn ich dem Tabak auf dem Balkon fröne. Der letzte Mieter war ein nicht mehr ganz so junger Mann, Mirko hieß er. Das weiß ich, weil wir uns ein paar mal auf der nahen Nordbahntrasse getroffen haben und ich ihn irgendwann einfach angesprochen habe. Ein Radler, der sein Rad mit in die Wohnung nahm – ein Liebhaber alter Stahlräder. Ein Hund, der niemals an der Leine ging und sein kleiner Sohn, der wie damals der meine alle zwei Wochen an den Wochenenden bei ihm war. Ein leicht verrückter Kerl, der Mirko. Oft sah ich ihn durch seine Wohnung tanzen, die Musik bis hier oben hin zu hören. Seine Wohnung, keine Einrichtung aus dem Katalog, vieles selbst gebastelt, er konnte gut mit Holz umgehen. Später dann sah ich eine Frau an seiner Seite und freute mich für ihn. Allmählich war er immer seltener daheim, was mich nicht wirklich wunderte. Vieles erinnert mich an meine eigene Geschichte, auch mir ging es damals ähnlich.

Jetzt ist er fort und ich weiß nicht, wohin. Die Tage war Licht dort unten, und ich sah jemanden abbauen und aufräumen, aber es war nicht Mirko. Draußen stand ein Hänger, Tagelang im Regen mit seinen Sachen darauf, wohl für den Sperrmüll bestimmt. Was mich nachdenklich stimmt, was mag mit ihm wohl sein? Alles stehen und liegen gelassen und abgehauen, das kommt vor. Hoffentlich ist er noch unter uns, irgendwo …

Gerade wurde der Hänger abgeholt ..
Mirko, falls Du noch lebst – meine besten Wünsche für Dich.

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13 Gedanken zu „Noch eine Nachbarschaftsgeschichte

  1. aja

    Unsere Seele, unsere Gefühle hätten es lieber – und ich malte mir sofort deine Geschichte aus, wenn Mirko sich von dir verabschiedet hätte – ein kurzer Händedruck nur oder ein paar Worte hätten die hinterlassene Leere gar nicht in dieser Weise aufkommen lassen, bei dir und dem Leser deiner Geschichte.

    Ich beobachtete mich beim Lesen, wie ich sie sofort umschrieb – eine runde Geschichte daraus formte.
    Aber so ist das Leben eben oft nicht.
    Mir fallen selber Situationen ein, wo ein Wort mehr von mir bestimmt mit-menschlicher gewesen wäre.

    Deine Geschichte ist eine schöne Weihnachtsgeschichte.

    Herzliche Grüße
    Barbara

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    1. Reiner

      Das stimmt – runde Geschichten werden gerne gelesen und gedacht, aber das Leben, wie es nun mal ist, sein kann, bietet so viele davon nicht. Sehr oft bleiben eine Menge Fragezeichen – wie auch hier.

      Herzliche Grüße auch Dir, & schön, dass Du hier warst !

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  2. Anhora

    Ich mag deine Geschichten! 🙂
    Und nun hoffe ich auch, dass es Mirko gut geht.
    Der Zufall will es, dass es in meinem Leben einen Marco gibt, dem geht es nicht gut. Wenn dies jemand liest: Bitte drückt die Daumen, das er wieder gesund wird.
    Lieber Gruß, Anhora

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    1. Reiner

      Danke 🙂

      Namen sind hier beim Wassertiger Schall und Rauch … und meist nicht echt 😉
      Dem Marko jedenfalls auch von mir alles Gute, unbekannter Weise !

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  3. Bisou

    Schon irrwitzig wie wir spontan dazu neigen irgendwas zu befürchten, ging mir beim Lesen nicht anders.

    Dabei geht es Mirko gut, so gut wie schon lange nicht. Er hat im Lotto gewonnen, traute sich aus der neuen Situation heraus seiner Freundin eine gemeinsame Wohnung vorzuschlagen. Und, stell dir vor, jetzt wo er die Alimente regelmässig zahlen kann, zickt seine Ex auch nicht mehr so rum und er kann den kleinen öfter sehen.

    Weihnachten… 😉

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  4. grasoli

    ’n Abend Rainer,

    Die Geschichte passt zu Deinem Beitrag Angekommen. Schaue auch auf Deine Mitmenschen. Auch ich habe Mirko alles Gute gewünscht beim Lesen. Manches mal ist Beobachten unsere Aufgabe.

    Danke für Deine Geschichten und ein geruhsames, ereignisreiches neues Jahr.
    Gruß

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