Zeitreisen

Jemand spricht und ich sehe mich vor 5,15, 20, 30, oder 40 Jahren. Ein kurzer Anflug der Gefühle dieser Zeiten überfällt mich, Bilder steigen auf und verschwinden wieder. Sie klebt nicht, diese Erinnerung. Sie ist intensiv, aber flüchtig. Immer wieder dominiert die Gegenwart, was ich sehr beruhigend finde. Irgendwann spreche ich, wie ich es gewohnt bin in diesem Kreis. Von mir, von den eben aufgestiegenen Bildern und Erinnerungen, was wiederum dazu führen kann, dass mancher denkt, was spricht der nun von mir… So tun sich Parallelen auf, die uns verbinden, uns in den Pausen in den Arm nehmen lassen, uns das Gefühl geben, ausgewachsene Glückskinder zu sein, allen Herausforderungen des Lebens zum Trotze.

Erfahrung, Kraft, und Hoffnung teilen.
Eines von vielen Meetings.

Wenn ich still bin, bei mir und nicht vom Tagesgeschäft gefesselt, dann bekomme ich eine Ahnung, wie es einst ausschauen könnte, mein Leben. Mit dieser meiner Vergangenheit und Gegenwart. Mit diesen immer wiederkehrenden Bildern und Gefühlen, die nicht mehr ihre Macht besitzen, aber unauslöschbar zu mir gehören. Spannend daran ist allein die Frage, was ich in meinen täglichen Fristverlängerungen noch alles loslassen, reduzieren oder umwandeln darf. Tun, was ich kann, egal wo. So gehe ich jagen und sammeln und so schaue ich meine Abgründe, um nicht hinein zu fallen und um Brücken zu bauen.

Wünsche hätte ich so einige, aber da das Leben dazu neigt, bei manchen Wünschen nur leise zu kichern, bleibe ich dort, wo ich bin und mache das beste aus dem Tag. Eines wird mir immer klarer: Die Zeit läuft und das tägliche Klein-Klein ist es immer weniger wert, mich zu empören. Was mich nicht daran hindert, es gelegentlich wieder zu versuchen … um mich gleich darauf wieder einmal selbst zu fragen, ob es das nun wirklich wert war. In grob geschätzt drei von vier Fällen war es das eher nicht, im Nachgang betrachtet.

In dem Zusammenhang ist es für meine dunkle, bergische Grübler-Seele eine große Herausforderung, mir das Lachen zu bewahren, ohne in bitteren Sarkasmus oder gar Zynismus abzugleiten. Die Versuchung ist riesig, beim Anblick mancher Menschen braucht es keine Karikaturisten, vielleicht einen guten Fotografen oder einen guten Zeichner. Hilfreich ist es dann, mich an das andere Ende zu stellen, um zu spüren, was manch leise ätzende Rede wohl so alles anrichtet. Sagt der kleine Mann im Ohr dann immer noch „Ja“, kann es losgehen – wohl bekommt`s, hüben wie drüben. In der Königsklasse dieser Kunst gelingt es mir, Grenzen und Contenance zu wahren sowie der Versuchung, in Arroganz zu fallen, die Stirn zu bieten.

Der rote Faden jetzt und hier, in diesen Zeilen? So genau weiß ich das auch nicht, vielleicht gibt es keinen. Muss es auch nicht immer.

*

 

 

11 Gedanken zu „Zeitreisen

  1. Caroline Caspar

    Ich seh den Faden, an manchen Stellen mit dicken Knoten, Schleifen, und bisweilen nur noch sehr dünn. Ich glaub, meiner sieht ähnlich aus, ungeachtet unterschiedlicher Erfahrungen.
    Hab ein schönes Wochenende.

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  2. Regine

    Ich finde mich in Deinem Text wieder. Ja, die Zeit läuft und das manchmal unfassbar schnell. Wenn ich zum Beispiel denke, ich war gerade kürzlich in meiner Trennunsphase und ich dann nachrechne, wie viele Jahre das schon her ist, wundere ich mich sehr über meinen Realitätsverlust. Vielleicht kommt mir die Zeitspanne so kurz vor, weil die Erinnerungen so real sind, so, als wäre es gestern gewesen?
    Na ja, wichtig ist natürlich, gegenwärtig zu sein. Im Hier und Jetzt…..aber das kommt mir auch so schnellebig vor. Kaum bin ich hier, ist´s auch schon wieder vorbei. Ich möchte mir hauptsächlich die schönen Dinge in der Erinnerung bewahren. Das andere ist ja sowieso. Und jetzt verliere ich auch meinen roten Faden. Macht nichts, bei Dir nicht! Liebe Grüße und einen sonnigen Sonntag! Regine

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    1. Reiner

      Liebe Regine, hier braucht es keinen „roten Faden“ 🙂 Für mich gehören zur Erinnerung auch die unschönen Begebenheiten – mir zum Schutz vor Wiederholung.

      Hab`auch Du einen guten Sonntag !

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  3. Silberperlen/bmh

    Meine Tochter sagte mir kürzlich, zu denken, hat man eine Etappe geschafft, käme das große Glück, hat sie gelernt zu wissen, dass die nächste „Herausforderung“ schon wartet.
    Leben auch dann in seiner Schönheit zu sehen und es zu meistern, stärke sie ungemein.
    Ich liebe meinen „Sproß“, der solche Gedanken hegt und pflegt und mit diesen aufbauenden Worten gerade dem seine Liebe schenkt, der sie gerade benötigt.
    Das Leben ist schön, sagt sie und ich stimme ihr zu.
    Liebe Grüße
    Barbara

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    1. Reiner

      Deine Tochter ist, so liest es sich, schon weit mit sich gekommen. Das freut mich für dich, für euch ! Manche schaffen in Jahren, wofür andere Jahrzehnte brauchen 😉

      Auch Dir liebe Grüße !

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  4. Aloisia Eibel

    Mir kommen die letzten 46 Jahre so kurz vor. Ich kann gar nicht glauben, dass der Mauerfall schon bald dreißig Jahre her ist, für mich ist das noch ganz nahe und dabei gibt es junge Leute, die ihn gar nicht erlebt haben. ja und man sieht Kinder heranwachsen, deren Eltern man schon heranwachsen sah.., ja was ist wirklich wichtig? Die Liebe, zu Allem und Allen und natürlich zu den Liebsten.
    Danke für den Text, er ist vom Feinsten. Einen lieben Gruß!

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    1. Reiner

      Mein Zeitempfinden ist ähnlich – auch und gerade, wenn ich, so wie heute wieder, einen über lange Jahre vertrauten Menschen am Ende seines Weges sehe.

      Danke für deine lieben Worte, ich freue mich, wenn Du herein schaust.
      Grüße Dir in den Abend!

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  5. TeggyTiggs

    …ich schließe mich dem an, ein feiner Text…und sehe das Altern mit viel Trost und Gelassenheit verbunden, der Abstand zum Vergangenen vergrößert sich, so dass ich vieles, was mich vordem störte, ärgerte und wütend machte, einfach in den Arm nehmen kann…somit wandelt sich alles zum Guten nach und nach, denn alles hatte und hat einen Sinn…

    liebe Grüße
    TeggyTiggs

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  6. gerlintpetrazamonesh

    Es ist schon richtig, in den Abgrund zu schauen. Allein, manchem wird dabei schwindelig und mit einem Mal scheint dieser Abgrund zu locken. Also auf die Sicherung achten! Was für die real erfahrbare Gefahr auf Leitern, in den Bergen, auf Dächern gilt, gilt auch im übertragenen Sinn.

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