Stachel im Fleisch 1

Es war irgendwann um 1968 herum, kurz vor oder nach meiner Einschulung. Die Stimme mit dem grünen Auge hatte gerade das Wohnzimmer verlassen müssen, das erste Transistor- Radio hatte Einzug gehalten. Meist lief Radio Luxemburg, was oft mit diversen Antennen-technischen Geduldprüfungen einher ging, da die Radio-Wellen nur schlapp bei uns im Tal ankamen. Radio Luxemburg hatte damals noch nicht den asigen Ruf von heute, sondern war eine gefragte Alternative zu den stinklangweiligen öffentlich-rechtlichen Sendern, von wenigen Ausnahmen dort mal abgesehen.

War mein Vater nicht da, lief die Kiste durch. In seiner Anwesenheit allerdings wurde der ganze neumodische Kram erst einmal aus- oder runter gedreht. Die Töne, die mir so sympathisch waren, in ihrem Kontrast zu den von meinem Vater so geliebten Heimat-Schnulzen und dümmlichen Schlagern. Pop-Musik eben oder in der Königs-Klasse Rock`N Roll.

Damals wusste ich natürlich nicht von solchen Band`s wie The Who oder den Stones. Von Woodstock schon gar nicht. Neben den viel versprechenden, fremden Klängen machten mich die Statements meines Vaters bezüglich der Musik und der neuen Zeit so ganz allgemein neugierig. Der war in seinem Innersten zutiefst erschüttert über die Welt da draußen. Revoltierende Studenten, die ersten Bombenleger, Straßenkämpfe, Randale. Rock`N Roll, das hörten für ihn nur die Gammler und Hasch-Raucher, wie er meinte, ohne mir das näher zu erläutern.

Irgendwie machte mir seine Ablehnung dieser ihm fremden Welt erst einmal Neugierde. Zumal es da noch diese Freundin meiner Mutter gab, mit ihren drei Kindern. Eines davon war seinerzeit bestimmt schon 16 oder so, also ein Jahrgang, den man heute als 68er bezeichnet. Lange Haare, Flicken-Jeans, rotzfrech und er hatte eine elektrische Gitarre samt Verstärker, mit der er wunderbaren Lärm produzierte. Einen Vater hatte der auch, allerdings nicht sein “richtiger”, selten zuhause, und wenn, dann mit Neigung zu Krawall. Jedenfalls war ich fasziniert von dem “Großen”, der kam mit seiner Gitarre dem mysteriösen Bild der verfluchten Gammler und Hasch-Raucher meines Vaters schon recht nahe.

Der Grundstein war gelegt, der Stachel im Fleisch saß. So wuchs ich also in die 70er Jahre hinein, dem Jahrzehnt, das an Schrägheit unübertroffen bleiben sollte. Laut, schrill, bunt, rückblickend mit seinen zahllosen Stilblüten an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten. Für einen mittlerweile 10-jährigen wie mich jedoch Faszination pur sowie absolutes Kontrastprogramm zum elterlichen Mikrokosmos.

* Fortsetzung *

~

 

4 Gedanken zu „Stachel im Fleisch 1

  1. Bisou

    Bei uns war der Empfang gut und der 68er war der Vetter meiner Nachbarin, aber sonst könnte dieser Text meiner sein… nur dass ich ihn nicht so hätte schreiben können 🙂

    Danke fürs stöbern in deiner (meiner) Vergangenheit

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  2. Uschi H.

    Da kann ich mich ja glücklich schätzen, in einer Musiker-Familie aufgewachsen zu sein
    und was diese betraf, war große Toleranz vorhanden.
    Nur was das Ausgehen betraf, da war mein Vater gnadenlos und bis ich die Schule beendet hatte,
    war sehr frühzeitiges zu hause sein angesagt!!!

    Das könnte ich vielleicht meinen Stachel nennen, der mich immer wieder traf, wenn die Freunde bleiben durften und ich den Weg nach hause antreten musste…okay, es waren die Anfang 60ger *lach.

    Tolles Blog, bin gespannt wie es weiter geht.

    Liebe Grüsse
    Uschi

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    1. Reiner

      Ich auch, @weiter geht ;). Tief graben trägt immer stark autobiographische Züge und mit den Gefühlen kommen die Bilder hoch. Die meiste Arbeit macht das aussortieren, was hier hinein passt und was nicht…

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