Schulbeginn

Normalerweise bin ich um diese Zeit nicht daheim. Wochentags morgens so gegen 8 Uhr stehe ich meist schon mitten im Tag, mit Ausnahme der freien Tage, freiwillig oder wie derzeit eher unfreiwillig. Wie ich da so liege, unter meiner AUA-Decke, kann ich schön aus dem Fenster schauen und fühle mich ein wenig so, wie sich gelangweilte Rentner (gibt es die wirklich?) fühlen könnten.

Da draußen ist eine Menge los, um die Zeit. In der Nähe liegen zwei weiter führende Schulen, Hundertschaften motorisierte, so genannte Helicopter-Eltern (die nichts mit dem schönen Helicopter-Spiel zu tun haben) verstopfen die engen Straßen hier im Quartier. Parallel dazu ergießen sich von der anderen Seite des Berges aus den Einsatzlinien der Stadtwerke große Ströme ganz normaler Kinder, also solche, die einigermaßen selbstständig erzogen werden und schon allein am öffentlichen Personen Nahverkehr teilnehmen können, auf Straßen und Gehwegen in Richtung ihrer Schulen. Die meisten gehen zügig in kleinen oder größeren Gruppen, schwatzend, lachend, oder eher still. Freundinnen im Gleichschritt mit röhrenbejeansten Beinen sind zu sehen und ich denke, interessant, das manche Mode tatsächlich 4 Jahrzehnte überdauern kann.

Langsam werden die Gruppen weniger, Zeit für manche schlendernden Nachzügler, manche mit gesenkten Kopf, die es nicht eilig haben, gelehrt zu werden, andere dagegen sind schlicht spät dran und hetzen den anderen hinterher. Alles so wie immer schon, denke ich, von den verrückten Eltern mit ihren Autos mal abgesehen.

Während sich da draußen der Verkehr normalisiert, lasse ich meine Gedanken treiben, nicht zuletzt, weil auch ich Vater eines solchen „großen“ Kindes bin. Erfolg und Versagen, oder besser das, was wir dafür halten, fallen mir ein. Wie viele von denen gerade eben fallen durch das Netz und müssen schauen, wo sie bleiben. Gründe dafür kann es viele geben, Krankheiten, familiäre Krisen aller Art, oder schlicht das Gefühl, „anders“ zu sein und irgendwie nicht in diese Welt zu gehören. Toleranz und Kompromissbereitschaft gelten als Tugenden der Zeit, bei vielen allerdings nur unter ihresgleichen oder als leere Worthülsen. Spätestens wenn die Bereitschaft zum teilen gefordert ist, Zeit, Aufmerksamkeit oder sogar Geld, trennt sich die Spreu vom Weizen. Und „anders“ ist man schnell heutzutage. Introvertiertheit reicht schon oder jede Abkehr, sei es religiös, sexuell, ethnisch, politisch, kulturell oder sozial von der so genannten Majorität.

Dieses Land erscheint mir da gespalten, auf eine merkwürdige Art. Einerseits gilt Individualität als gesellschaftsfähig, andererseits haben sich in Sachen Bildung und Erwerbsleben Verhaltensweisen etabliert, die keine wirkliche Abkehr zulassen. Ungeschriebene Gesetze bestimmen das tägliche Zusammenleben innerhalb der gegebenen Strukturen und Hierarchien.  Zum Beispiel „Sei kritikfähig und übe dich in offener Fehler-Kultur.“  Was meint, trete bloß niemanden ernsthaft auf die Füße und wenn Du Scheiße gebaut hast, gib`es sofort zu, aber erwarte das nicht von anderen, schon gar nicht von deinen Vorgesetzten.  Oder „Schaue stets über deinen Tellerrand“  Was meint, sei aufmerksam, was um dich herum geschieht, aber überschreite in gar keinen Fall deine Kompetenzen, sondern teile deine Beobachtungen mit deinen Vorgesetzten, damit der den potentiellen Erfolg verbuchen kann. Oder auch „Übe dich in Teamfähigkeit“ Was meint, sei froh, wenn man dich mit Arbeit überhäuft, das ist die beste Existenz-Absicherung. Solltest Du das nicht alles schaffen, tue so wie die meisten anderen, trete die Dinge herunter zum Nächsten, auf das Dein Tisch sauber sein möge. Was man nett verpackt auch delegieren nennt.

Vielleicht bin ich auch nur geschädigt durch die lange Zeit in meinem Beruf, wie dem auch sei…Widersprüche und fadenscheinige Ansagen finden sich überall und die wenigsten haben vermutlich das Glück, mit ihren Beruf auch eine Berufung gefunden zu haben. Hilfreich ist in jedem Fall ein Gespür für einigermaßen ertragreiche, besetzbare Nischen, verbunden mit dem Mut, diese auch zu betreten. Günstige Gelegenheiten gehören ebenso dazu wie die Fähigkeit, diese auch wahrzunehmen und zu nutzen.

Mit diesen Gedanken und besten Wünschen für die Kid`s da draußen kehrt meine Aufmerksamkeit wieder zur AUA-Decke zurück und zur Wärmflasche.

Gut für diesen Augenblick.

 ~

6 Gedanken zu „Schulbeginn

  1. Ananda

    Aus-Zeit
    Freie Zeit
    Zeit haben
    Bilder kommen hoch, gehen durch den Kopf und entfleuchen auf der anderen Seite wieder raus
    Hinterlassen Spuren
    Erwecken neue Bilder
    Erzählen uns etwas
    Über uns Selbst

    Liebe Grüße in’s Wochenend 🙂

    Antworten
  2. Uschi

    Interessant was dir Morgens um ACHT so durch den Kopf geht 😉

    Solche Art *Kopfkino kenne ich auch zur Genüge und muss mich manchmal sogar selbst zur Ordnung rufen, dass es nicht ausufert.

    „Dieses Land erscheint mir da gespalten, auf eine merkwürdige Art.“…

    ein Satz, der mich eben richtig nachdenklich stimmt, denn ich erlebe es fast täglich, was *anderssein* bedeutet. Jetzt nicht mehr direkt auf mich bezogen, aber auf den Enkel.
    Bloß nicht aus der Reihe tanzen, sonst…
    und was ist eigentlich Individualität ?
    An den heutigen Schulen mag man sie auf alle Fälle nicht !!!

    Ach, ich könnte jetzt, aber schweig mal lieber fein still 😉

    Hat mir aber sehr gut getan Reiner, hier bei dir zu lesen.

    Danke und einen lieben Gruß
    und dir weiterhin gute Besserung,

    Uschi

    Antworten
    1. Reiner

      Danke, Uschi, für`s reinschauen und die guten Wünsche.

      Individualität – die mittlerweile gesellschaftlich akzeptierte besteht, wenn überhaupt, aus tolerierten Äußerlichkeiten, sofern der/die Betreffende bereits irgendwo in Lohn und Brot steht und darum nicht verlegen ist. Stichworte wie Frisuren, Tattoo`s, Bartwuchs, Klamotten, Ohrringe, Schmuck aller Art fallen mir da ein, hervorgegangen aus den 70ern hier, wo so ziemlich alles erlaubt war, was gefiel. Im krassen Gegensatz zu der Zeit bis Ende der 60er, in der Konformität auch auf der Straße wichtig war.

      Andererseits scheint die Uhr in vielen Betrieben und Konzernen rückwärts zu laufen, was Akzeptanz unterschiedlicher Charaktere und Temperamente angeht. Vorläufer sind da sicherlich die Schulen, in den die Kinder schon mal sozial auf Erfolg gebürstet werden. Ein Korsett von Sozialverhalten und Aufgaben-Lösungs-Schemata wird erwartet, was sich überträgt, später. Ausnahmen bilden sicherlich kleinere Betriebe mit weniger ausgeprägter Arbeitsteilung.

      Aus der Reihe tanzen, hör`mal rein bei Gelegenheit 🙂
      Anno `88, das Thema ist also nicht so ganz neu…

      Lieben Gruß!

      Antworten
      1. Uschi

        Danke Reiner,
        hab‘ mal reingehört und ganz neu ist das Thema bestimmt nicht 😉

        Nur was eben grad wieder mal total krass erscheint, vor allem im Zeitalter des ja so gepriesenen Fortschritts, sind die ewigen RÜCK-Schritte, die passieren.

        Ach ja, hier könnten wir wohl stundenlang philosophieren und uns reinsteigern, aber besser geht es ja doch denen, die mit dem Strom schwimmen und sich nicht um 180° drehen, gell 😉

        LG Uschi

        Antworten
  3. bisou

    Ich werde dafür bezahlt das zu tun was ich gerne tue und ich tue gerne wofür ich bezahlt werde.
    Das schwierigste an der Arbeit ist meist das Aufstehen.
    Kluge Berufswahl oder Glück? Egal

    Danke für den Blick durchs Fenster, durch deine Augen

    Antworten

Schreibe einen Kommentar zu Uschi Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert