Rock `N Roll in der Zehnten

Wie viel Vergangenheit schimmert in der Gegenwart ? Und – blieb eigentlich etwas zurück, von den endlosen versumpften Nächten, damals. Von der sinnfreien Zeit im Rausch. Zunächst einmal hat sich die Definition von sinnfrei verändert. Besser gesagt, in`s Gegenteil verkehrt. Sinnfrei war damals die öde Schufterei Wochentags, sinnfrei war irgendwie alles, was an das Leben der Alten erinnerte. So, wie aus heutiger Sicht die vielen komatösen Zustände sinnfrei scheinen.

Es blieb noch mehr zurück, aus dieser Zeit. Jede Menge Erinnerungen. Scham ? Manchmal auch das. Wobei heute die Dankbarkeit vorherrscht, anders leben zu dürfen. Überhaupt noch leben zu dürfen, weil schon einige von damals nicht mehr hier sind.

*

Tatort: Das schwarze Hochhaus. Es gab und gibt bis heute nur das Eine im Dorf.
Tatzeit: Mitte bis Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts.
Protagonisten: Der Lange, der Seibi (so kann das gehen, mit dem spitzen Namen, wenn man trinkt und gerne spontan laut lacht), und meine Wenigkeit. Einen spitzen Namen hatte ich natürlich auch, der allerdings meinen Familien-Namen verraten würde. Lasse ich darum mal dezent weg. Ansonsten neben dem Nordlicht, das irgendwie immer dabei war, noch wechselnde Nebendarsteller sowie gewisse Frauen, die nicht davon abzuhalten waren, uns Gesellschaft zu leisten.

Das schwarze Hochhaus. Es hatte seinen Namen von dem hübschen Versuch der damaligen Erbauer, dem elenden Plattenbau mit bergischen Schiefer ein wenig von der Tristesse zu nehmen. Ein Unterfangen, was nur von weitem betrachtet erfolgreich war. Sonst war und ist dieses Ding bestimmt bis heute das, was es immer schon war: Preisgünstiger Wohnraum für viele Menschen, viel zu dicht aufeinander gedrängt.

Laubengänge laufen rundherum, ich glaube, dort wohnen knapp 100 Parteien. Es kam öfter vor, dass jemand seinem Leben von dort aus ein Ende setze. Was unter den Überlebenden Volksfest-ähnliche Zustände provozierte. Man stand in Scharen auf den Gängen und diskutierte über mehrere Etagen lautstark das Geschehen (Whatsapp und das blaue Buch gab es ja noch nicht).

Weiter gab es damals dort einen Müllschlucker auf jeder Etage. Eine Einrichtung, die zu groben Unfug animierte, gerade kurz nach dem Jahreswechsel. Feuerwerk, von oben durch den Schlucker auf die Reise geschickt, sorgte für lustig aufspringende Klappen in den unteren Stockwerken.

Jedenfalls von oben betrachtet,

Von oben sah dort überhaupt so einiges anders aus. Seibis Bude war auf der Zehnten, eine überschaubare Zweiraum-Wohnung mit Balkon und gewaltigen Ausblick. Klassisches Wohnzimmer-Deko gab es dort eher wenig, dafür einige Seefahrer-Devotionalien als Erinnerung an die Marine. Und Musik natürlich. Vor allem Musik. Laut, schnell, hart. So, wie die Partys eben waren. Wie überhaupt das Lebensgefühl in diesen Tagen zwischen Fleisch und Fisch. Ausgedehnte Spät-Pubertät traf treusorgende Familienväter (wehe, wenn sie los gelassen). Traf Typen wie mich, die planlos ihre Zeit verschleuderten, mangels oder auch mit besseren Wissen.

Musik und Gier auf Rausch war der Kitt, der uns zusammen hielt. Der Lange und Seibi waren ausgesprochene Fußball-Fans, richtige Wohnzimmer-Hooligans, die komplett austicken konnten, wenn sich die Dinge auf dem Schirm nicht wie erhofft entwickelten.

Falls doch, dann ebenso.

Damit konnte ich nie wirklich etwas anfangen, allenfalls mit der Emotionalität meiner Kollegen, die mich faszinierte. Mit dem Langen verband mich über die Sauferei hinaus der gemeinsame Beruf, mit dem Seibi ein gemeinsamer Hang zur Philosophie, zu Hintergründigem, gerne verpackt in Liedermacher-Kunst.

Schräge Auftritte liebten wir alle. Die Moral konnten die Alten behalten, Arsch voll – toll. Arsch voller – toller. Rechts war Gas und rechts wurde überholt, Auf den gerne spontanen Feten sowieso. Im schwarzen Hochhaus erst recht. Die nötige Infrastruktur war vorhanden, für die regelmäßig eintretenden Notfälle (Bier alle, mitten in der Nacht) gab es Kappes, ein paar Hundert Meter weiter. (Achtung, spitzer Name, Kappes hieß eigentlich so ähnlich wie das leckere, heimische Wintergemüse)

Kappes hatte eine ehemalige Tankstelle umfunktioniert, in eine mehr oder weniger gut gehende Pommes-Schmiede, verbunden mit Kfz-Handel der unteren Kategorie und eben Flaschbier. Jenes war in der ehemaligen Werkstatt deponiert und wurde von einem räudigen Köter bewacht. Das arme Tier konnte Nachts nicht raus und ein ungeschriebenes Gesetz besagte: Kein Bier vom Kappes aus der Flasche trinken! Man konnte nie wissen … Bei besagten, nächtlichen Notständen wurde also Kappes aufgesucht, der auf der anderen Seite der Straße in einem netten Reihenhaus-Viertel lebte und lautstark geweckt. Die Sorge um Ärger mit den Nachbarn sowie die Aussicht auf ein gutes Geschäft trieben ihn dann meist zügig uns zu Diensten.

Die Nachbarn. Ein Thema für sich. Viele Jahre später war ich schon länger trocken und hatte Nachbarn, die mir in Sachen damaliger Lautstärke nicht nachstanden – alles kommt zurück im Leben. Was damals niemanden von uns interessierte. Der Nachbar unter Seibis Domizil hieß Henry. Henry hatte die Arschkarte, regelmäßig. Wenn ihm nicht gerade aus einem defekten Küchenabfluss stinkige Brühe in die Wohnung lief, hatte er verständliche Probleme mit der Nachtruhe. Damit war er nicht alleine, sicher. Meist kam er dann irgendwann hoch, wollte um etwas Ruhe bitten und wurde im Gegenzug zum mitsaufen eingeladen. Was auch meist ganz gut funktionierte. Kam Henry mal nicht, wurde er so lange von uns gerufen, bis er schlussendlich vor der Türe stand und gebührend empfangen wurde.

Geht doch.

Manchmal kamen auch ungebetene Gäste, damals noch gekleidet in dezentem Grün. Einmal sogar durch die geschlossene Türe, derweil niemand der Übrig-gebliebenen die Schelle hören konnte. War halt laut und alle waren Bären-voll. Dann war Schluss mit lustig, drohten die Herren doch mit Konfiszierung des musikalischen Equipment. Was gar nicht ging, verständlicher Weise.

Ärger war also in gewisser Weise vorprogrammiert. Nicht untereinander, nie. Der Feind trug Grün. Oder High-Heels. Wie schon eingangs erwähnt, gab es gewisse Frauen, die unbedingt dabei sein wollten. Sei es, um kräftig mit zu zechen (Roter mit Genever lief toll), sei es, um ein Minimum an Nähe zu dem geliebten Menschen zu leben. Das Objekt dieses nur zu verständlichen Wunsches war allerdings anderweitig beschäftigt, was schlussendlich schlechte Laune provozierte. Dann wurde gemault und im Gegenzug flog auch schon einmal ein Damenschuh zielsicher unter dem Gejohle der Bande durch die stets offene Balkon-Türe geradewegs Richtung Parterre. Außenbords gedrückt, maritim gesprochen.

Überhaupt, der Balkon. DER Versammlungsort für lautstarke Verabschiedungen frühzeitig aufgebrochener Gäste. Die zweite Wahl bei der Suche nach einem Ort der Erleichterung, wenn auf der Toilette gerade gevögelt wurde. Oder die erste Wahl, einfach so, weil`s lustig plätscherte. Sonnenschirme weiter unten waren darum bei den ersten Klängen der Musik meist schon zusammen gefaltet, um die Blumenkästen musste man sich angesichts des niedrigen Durchschnittsalters der Akteure keine Sorgen machen.

Zeitweise gehörten zur Wohnung noch zwei ausgewachsene, schwarze Kater, die auf ihre Weise mit im Geschehen involviert waren. Dazu muss angemerkt werden, dass das Bad leider recht klein ausgefallen war und die Katzentoilette darum in der guten Stube unter dem Esstisch stand. Der Schreiber kann versichern, am Morgen nach so manchen Nächten wurde spätestens nach den Verrichtungen der beiden genau das getan, was eigentlich nicht geplant war:
Kaffee und sonstige Nahrung wurden geschmäht…und das erste Bier des Tages aufgemacht.

*

Schlussendlich möchte der Schreiber, der sich hier in der Rolle des Chronisten wiederfindet, betonen, dass er in keiner Weise stolz auf das Geschehen in jener Zeit ist. Er fühlt sich der Wahrheit verpflichtet, bevor das alles in gnädige Vergessenheit gerät. Was nicht ausschließt, dass gelegentlich ein leichter Hang zur Übertreibung mit ihm durchgegangen ist.

*

 

 

 

 

 

 

8 Gedanken zu „Rock `N Roll in der Zehnten

  1. Ananda

    hmmm…. ich erinnere mich gerne an meine wilden Zeiten… die schlechten kamen bei mir später…. jung und wild – find ich irgendwie völlich in Ordnung 🙂

    Einen lieben Gruß in den Tag <3

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    1. Reiner

      Geht so, @ in Ordnung.
      Solange mir das eine oder andere Grinsen kommt, beim schreiben …
      Und ja. schlechte Zeiten kamen später – bei mir ebenso.

      Lieben Gruß auch Dir !

      Antworten
  2. Caroline Caspar

    Sehr witzige, lebendige Schilderung eines Lebensgefühls. Klingt nach richtig viel Spaß und dem Bewusstsein, das vielen jungen Leuten heute leider abhanden gekommen ist, nämlich unkaputtbar zu sein und alles ausprobieren zu können.
    In meinem Leben haben sich gute und schlechte Zeiten seit jeher abgewechselt. Oft waren es gerade die gut geplanten, die sich dann zu so richtig beschissen – in doppelter Hinsicht – drehten. So wie sich eben auch Melancholie, Selbstzweifel, Zorn, Lebenslust und Freude an Neuem in meinem Inneren abwechselten. Daran hat sich bis in die Gegenwart kaum etwas geändert. Ebenso wenig an meinem Musikgeschmack, der das gute Alte vieler Richtungen erhält und Neues dann hinzufügt, wenn ich Qualität erkenne. Nachdem ich für einige Jahre wenig Gehaltvolles entdecken konnte außer in einigen Bereichen des Rap und Hip Hop, entwickelt sich gerade wieder mehr Interessantes auf dem Musiksektor. Und ein paar kitschige Sachen sind auch in meiner Sammlung, denn in meiner Welt hat jeder ein Recht auf ein klein wenig Kitsch. Das fand ich in sehr jungen Jahren nicht – da war ich strenger in meiner Beurteilung.

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    1. Reiner

      Danke 🙂

      Stimmt schon, heute scheinen sie um Längen braver als wir es damals waren. Vielleicht sind die Unterschiede und Widersprüche zwischen den Generationen nicht mehr so gravierend wie zu unserer Zeit damals. Wenn ich meinen Sohn so anschaue, bin ich auch ganz froh, dass er nicht unbedingt in meine Fußstapfen treten möchte … was lange meine große Sorge war.

      Wechselfälle des Lebens und der Stimmungen – bekannt. Gehört dazu, ohne Narben kein Charakter. Das haben die Jungen noch vor sich, auf ihre Weise, wie auch immer.

      Musik? Ich freue mich heute, wenn mir etwas Neueres gefällt. Das geschieht häufiger, gerade im Bereich Blues-Rock 🙂 Die Sachen von früher sind ab und zu ganz nett, ständiges hören ähnelt jedoch dem schmoren im eigenen Saft. 70er- oder 80er Jahre-Partys sind mir ein Horror…

      Grüße !

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  3. Holda Stern

    Lieber Reiner, deinen Text habe ich gern gelesen … und ab und an geschmunzelt … er macht irgendwie gute Laune … und das, obwohl deine Umwelt vermutlich eher unter euren „Partys“ gelitten hat … vor allem da sie regelmäßig stattfanden … in unserer Straße wohnen ein paar Häuser weiter auch junge Leute, die gerne mal übertag Musik andrehen … solange das nicht täglich ist, nehme ich’s gelassen, anders als bestimmte Nachbarn, die permanent stänkern, wenn irgendjemand auch nur ein Tönchen von sich gibt, auch wenn Leute einfach nur im Garten sitzen und mal laut lachen, da ärgert mich deren Gestänkere mehr als die Musik … mal ganz ehrlich, ich finde, du solltest ein Buch schreiben, du hast die Gabe auf spannende Weise zu schreiben … etwas mehr Dialog und der Text lebt total!
    Ach, und was die Vergangenheit betrifft: Völlig abstreifen können wir sie wohl nicht, aber mit dem arbeiten, was wir daraus gelernt haben. Das tust du ja auch.
    Bei mir weckt der Gedanke an die Vergangenheit eher ein Gefühl von „ungelebter Zeit“, in gewisser Weise wurde ich daran gehindert zu „leben“, die zu „leben“, die ich wirklich bin. So langsam wird es besser, weil ich im Begriff bin endlich zu leben und meine tiefsten Sehnsüchte wahrzumachen.
    Liebe Grüße, Holda Stern

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    1. Reiner

      Schön, dass Dir die Geschichte gefällt 🙂
      Mir fehlt noch die Kurve vom Berichterstatter hin zur Fiktion … wer weiß. Mehr als ein ausfüllendes Hobby wäre es nicht, aber immerhin. Mit Worten spielen kann ich …
      Ungelebte Zeit … bei mir ist eher das Gefühl präsent, manches wichtiges in meiner Entwicklung zumindest gut verzögert zu haben. Aber besser spät als nie …

      Lieben Gruß auch Dir !

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  4. Ilanah

    Bewahre dir das Lebensgefühl von damals, da ist nichts verkehrt daran.
    Das weniger gute hast du erkannt, das ist gut, kann ad acta gelegt werden.

    Vielleicht kannst du ja das damalige Lebensgefühl ins Heute integrieren, das macht bestimmt einiges leichter, könnte ich mir vorstellen.

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    1. Reiner

      Da sagst du etwas 🙂

      Bloß, weil ich einst den Stoff weg gelassen habe, bin ich nicht automatisch ein anderer Mensch geworden. Der Kern des Wesens dürfte aller Erkenntnis nach gleich geblieben sein, auch wenn ich heute einen klaren Kopf habe und nicht mehr einfach so Pipi vom Balkon mache 😉

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