Piccolo

Nicht, das ich sie wirklich sehen könnte, sie sitzt im Zug schräg vor mir. Es dämmert, und die Zugscheiben geben Spiegelbilder frei, die sich mit dem Blick durch den schmalen Spalt zwischen den Sitzen zu einem etwas größeren Bildausschnitt ergänzen.

Gepflegt wirkt sie, deren Alter schwer zu schätzen ist. Sauber und modisch gekleidet verbringt sie viel Zeit während der Reise mit ihren Fingernägeln, die über einem sorgsam ausgebreiteten Tuch akkurat gefeilt werden. Sie ist sehr schlank, so das ihr leicht gedunsenes Gesicht nicht recht zu ihrer Figur passen will. Zunächst spüre ich nur, das sie schwitzt, obwohl es im Abteil eher kühl ist.

Sie ist routiniert. Die Flasche steckt verschämt hinter einer Zeitung im Gepäcknetz der Sitzlehne. Sie hat zwei Handtaschen, eine ganz unverdächtige typische Damenhandtasche sowie eine zweite, die problemlos als Beautycase durchgeht, modisch anzuschauen. Das ist ihr Depot, sie ist meisterlich in der Kunst, fast geräuschlos eine leere Flasche gegen eine volle zu tauschen. Regelmäßig nimmt sie einen Schluck, nach einem genau festgelegten Zeitplan. Einem Zeitplan, den ihre Besatzer vorgeben, jene stillen Machthaber, die bei körperlicher Gewöhnung an Alkohol den Takt vorgeben. Der Spiegel will gehalten werden, ohne dem das Leben zur Hölle wird.

So, wie alles einem genau festgelegtem Plan zu folgen scheint. Immer wieder der Whatsapp-Check auf dem Smartphon, wieder Maniküre, wieder ein kleiner Schluck. Nur ein Telefonat, offensichtlich mit einem Kind, unterbricht die Routine, ebenso ein kurzes Nickerchen mit den gefalteten, makellosen Händen.

Gern hätte ich mit ihr gesprochen, wohl wissend, wie fruchtlos solche Gespräche in der Regel verlaufen. Hätte ihr gerne von mir erzählt, von dem nassen Säufer, der ich einst war. Der zum Ende hin auch beinahe den unheimlichen Machthabern zum Opfer gefallen wäre, die bei Nichtbeachtung Schweißausbrüche und lose flatternde Nervenenden produzieren.

Was bleibt, ist die Gewissheit, das jeder Mensch seinen eigenen Zeitplan Gottes in sich trägt. Als wir aussteigen, bleibt sie sitzen. Fast schon symbolisch. Viele steigen nie aus, gehen diesen Weg bis zum Ende. Was mir bleibt, ist tiefe Dankbarkeit, anders leben zu dürfen einerseits sowie die Bitte an unseren Schöpfer, ihr beim aussteigen behilflich sein zu können.

Falls es sein Wille ist.

*

12 Gedanken zu „Piccolo

  1. Holda Stern

    Einerseits lässt mich dein Text nachdenklich zurück über den Werdegang dieser Frau und gleichzeitig irgendwie froh über deine eigene Standhaftigkeit, obwohl wir uns ja nicht persönlich kennen … andererseits habe ich selbst genügend schwere Zeiten durchgemacht, um zu wissen, dass es auch anders geht … dennoch, es ist nicht leicht den diversen Versuchungen Stand zu halten, ich bin oft genug ausgelacht worden, weil ich zum Beispiel Zigaretten oder ein weiteres Glas Bier verweigerte. Auch solche Erlebnisse nagen … weil man so oft die Ausgestoßene war, die angeblich Vernünftige. Innerlich war jedoch immer ein Verlangen zur Gruppe dazu zu gehören … bis heute fühle fühle ich mich oft außen vor, vermutlich weil ich dieses Ausgestoßensein so oft erlebt habe. Ich muss mir selbst vorsagen, dass mein Gehirn etwas Falsches gespeichert hat und dem nicht so ist. Der „andere“ Weg, also der ohne die Sucht ist sehr schwer zu gehen … und das innere Leid im Nachhinein oft nicht minder …

    Liebe Grüße, bleib stark!

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    1. Reiner

      Es ist ein mir seit der Kindheit an vertrautes Lebensgefühl, nicht „dazu“ zu gehören. Heute ist das in gewisser Weise abgemildert, weil ich etwas dafür tue, auch wenn ich mich oft genug als Durchreisender sehe. So bin ich heute recht froh um mein anders-sein, wenn ich mir die Welt um mich herum so anschaue.

      Gleiches sucht Gleiches. Das war früher trinkend so und ist heute auf anderer Ebene immer noch so. Mich ziehen Menschen an, die sich irgendwann einmal aus tiefen Leid heraus auf dem Weg gemacht haben, in ein besseres Leben. Das müssen nicht unbedingt andere Suchtkranke wie ich sein. Auch ziehen mich Menschen an. die an etwas glauben, für die die Welt ebenso wie für mich nicht nur breit, sondern auch tief ist. Menschen, die bei aller Ernsthaftigkeit noch lachen können 🙂

      Ja, ich bin dankbar, heute so leben zu dürfen und wünsche das dieser Unbekannten aus dem Zug ebenso. Dir, liebe Holda, sei versichert, Du bist genau richtig, wie und wo Du bist. Meiner Meinung nach 😉

      Lieben Gruß!

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  2. Ananda

    puuuh… berührt … aber wie du sagst…. wahrscheinlich bringt ein Gespräch nichts… obwohl es mir auch immer schwer fällt… hab ein magersüchtiges Mädel hier in der Nähe wohnen… die seh ich immer wieder… ganz schlimm schon, Beinchen wie Streichhölzer… und etwas in mir sagt „vielleicht kannst DU ja den entscheidenden Kick geben… aber meine Vernunft sagt „das haben bestimmt schon einige vor dir versucht…
    und ja – da hilft dann nur noch beten – in dem Sinne, für sich selbst einen Abschluss und seinen Frieden mit der Situation zu finden – ob es hilft – dass ist nicht unsere Sache zu entscheiden

    Lieben Gruß <3

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    1. Reiner

      Mein Gegenüber soll sich, wenn, dann, aus sich heraus öffnen. Dazu bedarf es zum einen einer Gelegenheit, die sind an sich schon dünn gesät. Dann ist es so, wenn ich mich selbst öffne, etwas von mir preisgebe, erlaube ich meinem Gegenüber , es mir gleich zu tun. Gebe sozusagen einen Vertrauensvorschuss ohne Gewähr. Aber – wie gesagt, am Anfang steht immer die günstige Gelegenheit.

      Mich öffnen.
      Nichts erwarten.
      Nach Möglichkeit keine Fragen.
      Das Wesen der Selbsthilfe 😉

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  3. unglaublich.leichte.schwere

    Dein Text hat mich ebenfalls sehr berührt! Ich kenne das Thema Alkoholmissbrauch leider nur zu gut. Ich bin auch sehr dankbar dafür, dass ich es geschafft habe diesen Zug zu verlassen und wünsche mir, dass das allen anderen auch gelingen möge. Alles Liebe

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