Nachspüren & sacken lassen

Das deutschsprachige Ländertreffen der anonymen Alkoholiker DLT 2016 in Bremen ist vorbei. Es war für mich das dritte große Treffen dieser Art, nach Augsburg vor zwei Jahren und wiederum Bremen vor 10 Jahren. Den Tag heute habe ich mir frei gehalten, um die vielen Eindrücke noch einmal Revue passieren zu lassen, bevor der Alltag mich wieder in seine Fänge hat.

So viele Menschen. Über 3200 Einschreibungen gab es diese Jahr, davon knapp 1000 Familien-Angehörige der ALANON-Gruppen – der „Rest“ betroffene Suchtkranke wie ich. Alle gemeinsam auf dem Eröffnung- und Abschluss-Meeting und in sehr großen Gruppen in den zahlreichen Themen-gebundenen Meetings. Wenn man wie ich und viele andere nur „kleine“ Gruppen von vielleicht bis zu 15, 20 Freunden kennt, ist es schon sehr bewegend, ein Meeting mir mehreren 100 Freunden gemeinsam zu teilen.

Zwei davon habe ich am Samstag besucht. Das Eine hatte den Themen-Schwerpunkt Angst und Depressionen als „Nebenwirkung“ des Alkoholismus. Anfangs hatte ich mit dem Wort Nebenwirkung meine Schwierigkeiten, war mein Leben doch solange ich denken kann, von Ängsten geprägt. Der Stoff hat mir lange Jahre eine Art Parallelwelt erschaffen, in der ich mich scheinbar angstfrei und meiner selbst etwas sicherer bewegen konnte. Rückblickend kann ich sagen, das meine persönliche Nebenwirkung darin bestand, mich nicht mit meinen Ängsten auseinandersetzen zu können und einen Weg in Richtung Heilung, Frieden finden zu können. Was immer nur platt geschlagen wird, löst sich eben nicht. Erst mit Beginn meiner Trockenheit konnte daran etwas ändern, mit viel Geduld (mit mir selbst – oft sehr schwer) und Beharrlichkeit bin ich seitdem auf einem guten Weg.

Das andere Meeting hatte den Themen-Schwerpunkt Glaube und Spiritualität. Das wichtigste für mich war und ist die Erkenntnis, das ich mit meinem dicken Ego eben nicht der Herr der Dinge bin, das ich seit dem letzten Rausch einen mich liebenden Gott als übergeordnete Instanz anerkennen darf. Das ist ein roter Lebens-Faden, den sehr viele andere Betroffene ebenso finden durften. Mein Wille und SEIN Wille, die Macht des elften Schrittes trägt mich bis heute, für heute:

Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott – wie wir Ihn verstanden – zu vertiefen. Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.

Es hat mich unglaublich bewegt, bei diesen beiden Meetings die Erfahrungen der anderen Freunde teilen zu dürfen. Wie lange Zeit habe ich alles mögliche ausschließlich mit mir selbst ausmachen müssen, oft genug erfolglos und mit dem latenten dumpfen Gefühl, nicht alle Latten am Zaun zu haben 😉 Heute bin ich dankbar, „anders“ sein zu dürfen, mit alledem, was zu mir gehört.

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PS: Bremen ist auch sonst eine Reise wert. Eine sehr schöne Altstadt mit dem niedlichen Schnoor-Viertel. Leider kam ich nicht ausgiebig zum fotografieren, beim nächsten mal bringe ich mehr Zeit mit.

*

9 Gedanken zu „Nachspüren & sacken lassen

  1. Uschi

    Die Erfahrungen mit anderen betroffenen Freunden teilen zu dürfen,
    finde ich unsagbar schön und auch helfend
    und genau dies, hat mich eben sehr bewegt, was du alles geschildert hast von diesem TREFFEN !

    Ich kann nur als betroffenes Familienmitglied sprechen und bedaure es immer noch sehr,
    das uns dieser Weg nicht vergönnt war.

    Meinen Respekt hast du, Reiner und ich wünsche dir weiterhin alle Kraft, trocken zu bleiben.

    Lieben Gruß,
    Uschi

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    1. Reiner

      Ja, das war ein bewegtes Wochenende, Sven.
      Wichtiger aber sind die regelmäßigen Gruppen-Besuche.

      Lieben Gruß & auch Dir gute 24 Stunden!

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  2. holdastern

    Lieber Reiner, das Gefühl „nicht alle Latten am Zaun zu haben“ kenne ich selbst nur allzu gut; auch wenn ich nie alkoholsüchtig war. Inzwischen denke ich, dass ich lange „nur“ am falschen Ort, zur falschen Zeit, mit den falschen Menschen umgeben war. Zum Glück gab es unter diesen vielen Menschen doch einige wenige Gleichgesinnte, Menschen, die mich verstanden, die ebenfalls empfindsam und feinfühlig auf die Umwelt und ihrer misslichen Lage reagierten. Heute bin ich auch froh darüber, dass ich so bin wie ich bin. Ob ich sosehr „anders“ bin? Ab wann ist man „anders“? Doch eigentlich erst dann, wenn die Umwelt „anders“ ist als man selbst. Aber ist die Umwelt dann besser? Würde die Umwelt besser funktionieren, wenn ich mich den sogenannten „Normalen“ angleichen würde? Eher nicht! Unsere Welt braucht „Anders“denkende Menschen, die auch mal weiter als ihre eigene Nasenspitze denken. Menschen, die im Kleinen Großes wirken. Viele kleine Schritte bringen uns weiter. Dazu gehört auch Radfahren wie du es tust. Oder sich gesund ernähren. Weniger konsumieren. Weniger Ellbogen, mehr Geduld und Verständnis. Aber: Auch angemessen für sich selbst sorgen!
    Bei dir spüre ich so etwas … ich kenne dich ja nicht persönlich …
    Was ich noch sagen will: Diese Gefühle, die du kennst und an dir erlebst, also dieses sich „Anders“ fühlen, kennen auch andere, also auch Nicht-Alkoholiker. Nur die Antworten, die Menschen auf dieses Gefühl geben, fallen verschieden aus. Leider lebt die Umwelt den Kindern und Jugendlichen immer noch die Sucht-Antwort vor! Statt aufzuzeigen, wie man auf positive, konstruktive Weise auf Probleme und Konflikte antworten kann.

    Ich wünsche dir noch eine gute Woche und bleib ruhig „anders“!

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  3. Reiner

    Danke, Holdastern 🙂

    Es ist schon seltsam, heute. Einerseits gibt sich „die Gesellschaft“, also die so genannte Mehrheit, so tolerant wie nie zuvor, was das ausleben persönlicher Neigungen angeht. Individualisierung allerorten, jeder kann anziehen, glauben, gut finden, was er möchte.

    Auf der anderen Seite gibt es die unausgesprochenen Regeln, die politisch „korrekte“ Sprache, in der auch die allerletzten Zustände noch schöne, die Wahrheit verschleiernde Worte finden. Spielt man nicht mit, ist man ein Emo, ein Nerd, oder ein Verschwörungstheoretiker. Stellt man den Konsum infrage, der doch unser aller Arbeitsplätze sichert, wird man als linker Spinner abgetan. Nennt man die Unterschiede zwischen Menschen oder gar Völkern beim Namen, diskriminiert man oder gilt gar als Rassist.

    Wer das alles spürt und womöglich noch beim Namen nennt, gehört medikamentös neu eingestellt oder grundsätzlich mal „behandelt“, um wieder in die Spur zu kommen.

    Mich kriegen`se nicht 😉
    Lieben Gruß in den Westen 🙂

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