Durch die Zeit gefallen

So schrieb ich neulich in einem Kommentar, bezüglich meiner Befindlichkeiten. Es ist ein Gefühl, was mich schon länger verfolgt, mal ganz nah und unmittelbar präsent, mal in sicheren Abstand, schön hinter der letzten Häuserecke versteckt. Was verbirgt sich dahinter? So genau lässt sich das nicht festmachen, es zieht sich durch viele Lebensbereiche, ist eine Gemengelage von Vergangenen und Gegenwärtigen.

Zum einen hängt das vielleicht mit meinem beruflichen Status zusammen. Allen Wandel und technischem Fortschritt zum Trotz bin ich irgendwo Handwerker geblieben, ein digitaler Bastler mit kaufmännischen Hintergrundwissen. Was im Gegensatz zu meiner erlebten Wirklichkeit steht. Die Dienstleistungs-Gesellschaft lässt grüßen, ständig umgeben mich mehr Theoretiker, ein Chor von Wasserträgern, Wasserköpfen und keiner, der es in irgendwelchen klugen Reden nicht noch besser wüsste. Sie passen besser in die Zeit, scheint es, die Krawatten- und Seidenschal-Träger, die Flüsterer, die Krämer-Seelen (würden sie wenigstens richtig rechnen können), die Hofschranzen. Laut und schmutzig war gestern, das machen heute allenfalls die Chinesen oder sonst wer und auf dem Schirm sieht immer alles toll aus.

Andererseits hängt dieses seltsame Gefühl auch mit dem so genannten Zeitgeist zusammen, so, wie ich ihn ganz subjektiv empfinde. Nach außen ist er tolerant, der Geist der Zeit, Tattoo`s, schräge Klamotte, alles geht in Ordnung, soweit beruflich keine Kunden-Kontakte bestehen. Aber wehe, die Umgangsformen stimmen nicht, wehe denen, die zu „emotional“ reden. Die Inhalte sind dann nicht mehr wichtig, dann zählt nur noch der Ton.

Was sich auch im Großen widerspiegelt, in der Politik. Mutti ist pragmatisch, Charisma tut nicht Not, Wahrhaftigkeit auch nicht. Man empört sich Bündnis-treu über die Bösen im Osten und blendet anderes schreiendes Unrecht mit schlechtem Gewissen oder aus puren pragmatischen Geschäftssinn aus. Handels-Partner verärgert man nicht ernsthaft, ein bischen Schimpferchen hübsch verpackt reicht, die Krämerseele lässt grüßen. Noch nicht einmal kann ich mich da aufrecht und mit guten Gewissen empören, da ich zumindest ein kleiner Teil der großen Spieles bin.

Auch möchte ich nicht missverstanden werden. Dieses Land hier hat angesichts seiner Geschichte erstaunliches erreicht, in Sachen Menschlichkeit und Miteinander, selbst, wenn alter Unrat stets durch das dünne Mäntelchen schimmert. Allen Missständen zum Trotze kenne ich kein praktikableres besseres Gesellschaftssystem.

Was nicht heißt, das es nichts zu verbessern gibt.

12 Gedanken zu „Durch die Zeit gefallen

  1. Ralli Beaumonde

    ich lese in letzter zeit nicht selten von „liberalisierung“ – in vielen, wenn nicht allen bereichen – stelle aber real eine fortschreitende abschaffung von rechten fest. vielleicht hängt das mit deinem gefühl auch zusammen?
    ciao reiner
    ralli

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    1. Reiner

      Es ist schwieriger geworden, ja. Staatlich gesteuert per Arbeitsrecht darf unsereins heute erst einmal 1 Jahr Leiharbeit hinnehmen, danach bis zu 2 Jahre befristete Beschäftigung. Eine rechtlose, 3-jährige Probe- und Bewährungszeit, wenn man so will. Alles im Namen der Liberalisierung. …

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  2. Ananda

    Was mir auffällt:
    Es scheint sich als normal einzubürgern, dass Menschen keine Ahnung haben von dem, was sie tun.
    Verkäufer. Die Zeiten, dass man sich beraten lassen konnte, sind vorbei.
    „Ich suche eine schwarze Cordhose.“ „Äääääh….“ Ich wiederhole mich, beschreibe genauer. „Also, äääh, meinen Sie sowas?“ Das Mädel hält mir eine Jeans entgegen. „Cordhose. Wissen Sie, was eine Cordhose ist?“ „Ääääääh…“ Sie weiß offensichtlich nicht, was eine Cordhose ist.
    „Ich suche ein Sofa“ beschreibe genau, weiß ja, was ich will. „Da hätten wir zum Beispiel so etwas“. „Das ist mir zu eckig.“ „Was ist denn daran eckig.“ „Na gucken Sie doch, das ist doch wie quadratisch, kastenförmig, ich suche etwas Runderes.“ „Also ich kann mir nicht vorstellen, was ein rundes Sofa sein soll.“ Fall erledigt für die Dame, soll ich doch sehen, wo ich mein Sofa her krieg.
    Die netten Jungen Männer in diesem Laden, wo man Computer, Musik-Maschinen und so was kauft, demonstrieren gerne, wie schlau sie sind und wie blöd doch ich. Weiter helfen können sie mir aber auch nicht.
    Können / wollen ?
    Verkäufer sibd nur ein Beispiel.
    Du sagst Dienstleistung. Ja, wenn’s noch Dienstleistung wäre 😉
    Schein statt Sein.
    Alles wird immer schicker.
    Die Frage ist, was ist dahinter?

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    1. Reiner

      Blendwerk. Der Rubel, der rollen soll. Meistens. Verbunden mit Sinn-entleerten, auf oberflächliche Freundlichkeit getrimmten Personal.

      Allerdings sind sie nicht alle gleich, Gott sei Dank, Selbst kenne ich einige kleine, Familien-geführte Läden (oder von Einzelpersonen betriebene), die sich wirklich Mühe geben und kompetent sind. Denen es wichtig ist, das die Kunden wieder kommen. Die auch bereitwillig Rat geben zur Selbsthilfe (PC!) Das findet man in keiner großen Kette, oder wenn dann höchst selten. Die paar Euro, die ich dort vielleicht mehr ausgebe, rechnen sich am Ende.

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      1. bisou

        … wie lange werden sie noch überleben können wenn sie nur noch für die Beratung aufgesucht (missbraucht) werden und dann online billiger bestellt wird?

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  3. Uschi

    Man kann sich, angesichts deiner Gedanken, wirklich glücklich schätzen,
    wenn man noch sagen darf, GsD sind nicht ALLE so !!!

    Ein Fliegenschiss großes Land, in Anbetracht der Weltkarte, rettet die EU und manchmal sogar die ganze Welt.

    Ich staune immer wieder, wie still es noch in Deutschland ist.

    GlG Uschi

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  4. grasoli

    „Durch die Zeit gefallen“. Ich brauchte ein wenig Zeit um es in Ruhe fassen zu können was hier steht. Fernab der Wörter, Taktiken, Klungeleien, der Wissensgebäude – in denen gekämpft wird. Nein, nicht „Durch die Zeit gefallen“. Mitnichten. Immer auf dem Weg – mit den Händen selbst schaffen, was am Ende des Tages bleibt. Was sind schon Wörter und gedankliche Gebilde – ein Hilfsmittel, sie nähren nicht. Selbst etwas schaffen, mit Leichtigkeit, das nährt. Durch die zeit gefallen – nö. Mitten in derZeit, mit einer Erfahrung, die Du hier weiter gibst, als Mensch – als einer von den vielen Menschenwesen in dieser unruhigen, fast kriegerischen Zeit. Mitten in die Zeit gefallen, gefällt mir besser. Viele Glück.

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  5. gerlintpetrazamonesh

    Wer auf der Höhe seiner Zeit steht, auf dem Wogenkamm sozusagen, der wird gerühmt, ist berühmt wie Fritz, die Eintagsfliege. Denn morgen schon ist er von den malmenden Wellen verschlungen, vergessen, weg. Ja, ist das nicht unser aller Schicksal?
    Schon, ja doch. Aber wir können, wenn wir nicht auf der Absolutheit des Tagesstandpunktes beharren, auch unter die Wellenlinien, hinter das Wogen sehen – nicht klar, gewiß, aber doch ein Stück weit. All die Fische der Tiefe, all die Vögel am Himmel, all das Wetterleuchten am Horizont! Ich hatte immer so meine Zweifel, was es da an Tageswichtigkeiten wohl gibt, die Gestern und Morgen noch erwähnenswert waren und sein werden.
    Sollen wir uns nicht um das Heute kümmern? Doch, doch, ganz sicher um das Heute! Aber doch nicht glauben, dass es nur das Heute gibt, dass die von Gestern blöd waren und die von Morgen uns als die Krönung der Weisheit feiern werden. Das täuscht.

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