Brief an einen alten Freund

Wir hatten lange miteinander zu tun. Haben uns voreinander offenbart, uns gegenseitig in die Seele geschaut, wie Menschen das sonst im Alltag nur selten zulassen. Nicht nur das war es, was uns verband: Wir haben uns beide in den Dienst einer höheren Sache gestellt, ein gutes Stück losgelöst von unseren eigenen Lebensschwierigkeiten.

Dann kam Corona und die Gemeinschaft zerfiel, wie ein Spiegel, der in Tausend Stücke bricht, wenn er zu Boden fällt. Es gab Regeln und staatliche Vorgaben, wie mit der unsichtbaren Bedrohung umzugehen sei. Unterschiedliche Haltungen wurden offensichtlich, nicht nur bei uns beiden. Wir haben beide bei einer großen Social-Media-Plattform einen Account , ich bin allerdings nur selten dort präsent. Wenn ich alle paar Wochen mal herein schaue, klicke ich deinen Namen und schaue mir deine Postings an, in der Hoffnung auf eine Veränderung, die sich leider nicht erfüllt. Im Gegenteil, seit einiger Zeit teilst du Inhalte vom rechten Rand, deine Einträge sind voller Wut und Schmäh. Du hast Angst, beherrscht zu werden, nehme ich an. Weil ich dich ein wenig kennenlernen durfte, kann ich das verstehen, auch die Aggression, die sich damit aufbaut, mit der ich große Schwierigkeiten habe.

Auch ich habe meine Ängste. Das hängt mit meiner Geschichte zusammen, mit dem Riss, der durch die Sippe meiner Ahnen ging, das Leid, was sie sich gegenseitig zufügten. Das hängt mit der Zeit zusammen, die ein Vertreter deiner neuen Freunde als ein Vogelschiss in der Weltgeschichte bezeichnet hat. Aber das nur am Rande – im Grunde sind wir doch wieder gefordert, uns in den Dienst einer höheren Sache zu stellen, nur ist es dieses Mal nicht eine kleine verschworene Gemeinschaft, sondern unsere Gesellschaft als Ganzes. Dazu gehören nun mal auch Regeln, über die man diskutieren und streiten kann, ja. Unsere Politiker agieren leider viel zu oft aus Unsicherheit, Angst, Unwissen, Aktionismus und ja, leider sind auch einige wenige käuflich. Trotzdem kommen wir um Einschränkungen und Zumutungen nicht herum, wenn wir keine Verhältnisse wie in Amerika wollen, wo der Virus gemessen an der Einwohnerzahl fast doppelt so viele Menschopfer forderte, bis dahin. Allmählich scheint selbst dort ein Umdenken stattzufinden, Gott sei Dank.

Nichts wird wieder so wie zuvor, soviel ist klar. Das hat gesellschaftliche Gründe, aber in meinem Fall auch familiäre Gründe, die meine Zeit arg beschneiden. Was dich angeht – ich weiß, dass sich hinter all der Wut immer noch ein anderer Mensch verbirgt. Der Mensch, der mich in vergangenen Tagen an die Meditation herangeführt hat. Der Mensch, den ich für seine Verlässlichkeit und Verbindlichkeit hoch schätze. Der Mensch, dem ich für den Beistand, den er anderen Menschen am Ende ihres Weges leistete, großen Respekt zolle. Der Mensch, mit dem ich einen sehr schrägen Humor teilen konnte, dessen beim Lachen blitzende Augen ich noch gut in Erinnerung habe.

Wir sehen uns wieder, hoffe ich.

2021-03-07 08_44_52-Mediathek ‹ wupperpostille — WordPress – Opera

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16 Gedanken zu „Brief an einen alten Freund

  1. Nati

    Hallo Reiner.
    Sind dann ähnliche Themen die uns beschäftigen.
    Bei mir mit dem „Dein Schatten“ Beitrag.
    Vielleicht wird es bei dir wieder.
    Es ist äußerst Schade wenn man solch einen Menschen ziehen lassen muss, wenn er einem so nahe stand.
    Ja, es tut auch weh.
    Die Zeit wird es zeigen.
    LG, Nati

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  2. Herta Beer

    Hallo, danke für diesen Beitrag – ja, nicht jeder geht damit gleich um – und gerade auch Menschen, die viel hinterfragen, kann es nun spalten. Das ist ja gerade das Schlimme daran, egal, auf welcher Seite man steht – man steht auf einer Seite – und das ist das, was mir Angst macht. Glg Myriala

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  3. Katrin

    Sehr bewegend. Wir haben das oft in diesen Tagen, dass Menschen, die wir zu kennen glaubten, plötzlich anders denken, andere Prinzipien vertreten, die uns erschercken. Ich kenne das auch. Was tun? Ich versuche weiter im Gespräch bleiben, soweit es mir möglich ist, meine eigenen Gedanken überprüfen, meinen Grundsätzen treu bleiben und versuchen zu verstehen. Manch einem kann man nicht beikommem, da bleib ich still, überprüfe was er gesagt hat, stelle fest, das es für mich absoluter Quatsch ist, bin mir selber sicher das mein eigenes Handeln fur mich okay ist…. Kurz gesagt, ich bleibe mir selber treu. Und ach ja… Diese Plattformen… Ich bin da raus. Es hat mich verstört und das muss ich nicht mehr antun. Da mach ich nix mehr. Der letzte Satz von Rumi, der ist sehr tröstlich. Einen schönen Sonntag dir! Katrin

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    1. Grinsekatz Beitragsautor

      Grundsätzen treu bleiben ist auch mir wichtig.
      Das betrifft auch die Staatsform, in der wir leben.
      Die ich trotz aller Kritikwürdigkeit für eine der Besten halte.

      Danke & auch dir einen schönen Sonntag!

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  4. Anhora

    Auch ich hatte vor Kurzem eine merkwürdige Begegnung mit einem früheren Kollegen, den ich sehr gern habe. Auch da klang etwas durch, was ich noch nie von ihm gehört habe und bei ihm auch nicht erwartet hätte. Dabei war er schon immer ein Querdenker, solange ich ihn kenne, ich weiß nicht warum es mich jetzt so beschäftigt. Es war nur eine Diskussion – keine Wut, kein Schmäh, jeder darf eine eigene Meinung haben, solange sie niemandem schadet. In einem hat er recht: Es ist schwieriger geworden, gewisse Ansichten zu vertreten, die unser System in Frage stellen.
    Freunde treten in unser Leben und begleiten uns eine Weile, manchmal für immer. Aber das ist kein Anspruch. Man darf einfach dankbar sein für die gemeinsame Zeit, egal wie kurz oder lange sie dauert.

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    1. Grinsekatz Beitragsautor

      So ist es, alles hat seine Zeit.

      Berechtigte Kritik zu üben ist etwas anderes als das System in Frage zu stellen. Diejenigen, welche am lautesten danach rufen, stehen schon in den Startlöchern, um das Vakuum zu füllen. Ich stelle unsere Staatsform nicht infrage, ich hinterfrage einzelne Entscheidungen, das ist etwas völlig anderes.

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      1. Anhora

        Ich stimme dir zu! Auch ich wüsste nicht, in welcher Staatsform ich lieber leben würde als in der deutschen. Was natürlich nicht heißt, dass Menschen diese nicht hinterfragen dürfen, solange es um die Sache geht und nicht um Selbstdarstellung oder eigene Machtfantasien.

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  5. Aloisia Eibel

    Guten Abend lieber Reiner, Du beschreibst Deinen Freund, wenn ich ihn so nennen darf , mit sehr vielen positiven Facetten. Ich meine, Du liegst richtig, wenn Du diese Seiten von ihm vor Deinen Augen behältst. So bleibt Ihr auf einer höheren Ebene verbunden und Dein Freund kann nicht verloren gehen. Apropos für ihn zu beten wäre auch eine Möglichkeit. Ja und ihn mental frei zu lassen und an das Gute in ihm zu glauben…, na ja das sind so ersuche meine Sicht der Dinge zu beschreiben, ich hoffe Du verstehst. Liebe Grüße nach Wuppertal!

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    1. Grinsekatz Beitragsautor

      Liebe Aloisia, mental loslassen – ja, so in etwa, das trifft es gut.
      Wäre mir dieser Mensch gleichgültig, hätte ich ihn wortlos ziehen lassen.

      Vielen Dank für deinen Besuch und auch dir liebe Grüße!

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  6. Bisou

    Bei vielen erstaunt, bei einigen nicht, so habe Ich das grosse Glück lediglich „Bekannte“ aus meiner Freundeliste im Gesichtsbuch gelöscht zu haben.
    Vermutlich liegt es daran, dass fast alle meiner Menschen irgendwie im Medizinischen bereich angesiedelt sind.

    Dieses: „Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort, hier können wir einander begegnen“, macht ganz schön nachdenklich. Meine erste Reaktion war „will ich das überhaupt noch?“… Dann dachte ich an meine Tochter von der ich nicht weiss wo sie steht (habe sie auf Bildern mit Verschwurbelungstheoretikern gesehen), ja, für sie würde ich diesen Ort finden wollen.

    Auch wenn er, von hier aus drauf geschaut wie ein Minenfeld aussieht…

    Danke für deinen Beitrag

    ps: dieses „Danke“ liegt auch immer unter meiner Liketaste 😉

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    1. Grinsekatz Beitragsautor

      Ja, liebe Bisou, zu diesem beschriebenen Ort müssen beide hin wollen. Ich weiß, dass es ihn gibt, habe aber wenig Hoffnung. Manche Menschen driften ab und sind verloren, so ist es nun mal. Ob das dauerhaft ist oder nur für eine Zeit, das weiß Gott. Schlimm, wenn sie uns so nahe stehen wie in deinem Fall.

      Danke für`s hier sein – und für die Likes nebenan 😉

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  7. Lotte

    Hi lieber Reiner,

    berührt, den Tränen nahe.
    Der „Riss“, Meditation, Erkenntnis, Schmerz aus alten Zeiten.
    Trennung, die man weder wollte noch ausgerechnet dort vermutete, wo sie sich zeigt. Und hilflos, ratlos, wie Pergament, über das sich ein Platzregen hermacht.

    Krass das.
    Und doch und gerade deshalb: herzlichen Dank für diesen offenen Brief. Mut. Steht dir, steht uns.

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