Am See

Ein Zeltplatz, sehr schön gelegen an einem Bergsee irgendwo in Österreich. Er liebt das zelten mit den Eltern, die hier einiges anders sind als daheim. Weniger nervös und angespannt im Umgang miteinander, sie lassen ihm auch viel mehr Freiheiten als daheim. Kinder sind reichlich dort, auch in seinem Alter, also um die 8 oder 9 Lebensjahre vielleicht. Mal gibt es Tagesausflüge mit den Eltern, aber die meiste Zeit sind sie am See.

Daheim hat er kaum Freunde, dem kleinen Jungen fällt es sehr schwer, auf andere zu zugehen. Beim Camping ist das irgendwie alles anders, schnell findet er Kontakt mit den anderen Kindern am Platz. Dieses Jahr ist es allerdings wieder anders als in den Jahren zuvor. Ein paar Wohnwagen weiter campiert eine Familie mit einem Mädchen in seinem Alter, ebenso augenscheinlich ohne Geschwister. Die beiden finden schnell zueinander und verbringen ihre gesamte „freie“, also elternlose Zeit gemeinsam. Sei es mit gemeinsamen kleinen Ausflügen auf der bergwärts gelegenen Alm, die man so fein herunter rollen kann oder sei es direkt am Wasser, wo man am Ufer zwischen den Bäumen so herrlich spielen kann. Sie sind unzertrennlich, jeden Morgen nach dem Frühstück treffen sie sich, und selbst des Abends sind sie bis zum Anbruch der Dunkelheit noch für sich, derweil die Alten ebenso zusammen hocken, bei Kartenspiel, Grill und vielen Geschichten.

Es kommt, wie es kommen muss. Das Ende der Urlaubszeit naht und die Heimreise steht an. Es fließen Ströme von Tränen auf beiden Seiten und dann kehrt ein jeder dorthin zurück, wo er sich zuhause nennt. Der kleine Junge trauert noch ein Weile und „vergisst“ dann dieses schöne Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Zuneigung und Freundschaft. Er schaut die beiden, die ihm sein späteres Bild von Mann und Frau vorleben, lernt von den beiden, lernt früh, sie zu fürchten, später dann zu verachten, manchmal auch zu hassen und sehr viel später dann, zu vergeben.

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Gefühle können nicht vergessen werden, weiß der damalige kleine Junge heute. Sie sinken herab und schlafen nur, dringen nicht mehr in dem Bereich des Lebens, den wir Bewusstsein nennen. Sie lassen Menschen suchen, mitunter süchtig werden und die abenteuerlichsten Irrwege gehen, die furchtbarsten Verwechselungen durchleben, um vielleicht irgendwann wieder überraschend an`s Licht kommen zu dürfen.

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13 Gedanken zu „Am See

  1. Gerhard M.

    Daß das Erlebnis mit dem Mädchen und der Abschied sich auf diese Weise „verewigte“, war wohl Schicksal.
    Jemand anderes hätte VIELLEICHT was anderes mitgenommen, wer weiß.

    Ich bin gleichermassen sensibel. Von daher.
    Vielleicht schreibe ich mal eine ähnliche Geschichte.

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  2. bmh

    Ich meine mal, jeder hat eine ähnliche Geschichte erlebt und erlebt die Gefühle erneut und erneut und hält sie damit lebendig.
    Irgendwann hat sie sich verselbständigt und man erzählt sie, weil sie erzählt werden will.

    Liebe Grüße
    Barbara

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  3. Babs

    Das ist so schön, dass es mich zu Tränen rührt. Ich bearbeite und versuche auch aktuell genau diese Dinge zu bewältigen. Versuche auszubrechen aus den so früh erlernten Mustern, die mich nicht glücklich machen. Schön zu wissen, dass ich nicht alleine bin. 😉

    LG
    Babs

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    1. Reiner

      Das ist wohl charakteristisch für unser Lebensalter, sich all diese alten Geschichten noch einmal anschauen zu dürfen. Hier vermischen sich früher Trennungsschmerz und die abgeschauten „Muster“ zu einer Gemengelage, die den kleinen Jungen noch Jahrzehnte in Atem halten sollten.

      Dir auch einen lieben Gruß !

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  4. Bisou

    „Ersatz“, das Wort wird auch auf Französisch genutzt wenn es das meint was hier beschrieben ist.
    Ersatz Handlungen, ersatz Beziehungen, ersatz „alles“, bis wir in uns selber hinab sinken können, das zu finden was dort schlummert, bis wir wieder wissen wonach wir wirklich suchen und es so dann finden können.
    Du hast mich so manches Mal in meine Tiefen begleitet, danke dafür 🙂

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    1. Reiner

      Du bist einer der wenigen Menschen, mit denen mir das auf diese virtuelle Weise gelingt. Was meinem Hang zum ergründen und nachgraben geschuldet sein mag – für mich selbst ist es Überlebens-wichtig.
      Die Welt der Blogger – sie ist eigentlich nicht so 🙂

      Und ja – wo wir gerade dabei sind – Du hast mich mit deinem feinen mitunter gut verpackten Humor manches mal zum schmunzeln, grinsen oder zum lachen gebracht . Was gut tut, allem Ernst zum Trotze. Danke dafür 🙂

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  5. gerlintpetrazamonesh

    Wie lautet das so erwachsene und gerade von diesen selten befolgte Sprichwort? Wenns am Schönsten ist soll man gehen. Die rasch vorüberziehenden Sommererinnungstage, in der Erinnerung wohl noch eindeutiger schöner als damals in echt. Die schon durch die Zeitbegrenzung ganz rein gebliebene Zuneigung. Einfach schön. Ich glaube, viele erinern sich, ich auch, an so eine Kinderfreundschaft über kurze oder auch etwas längere Zeit, die irgendwann endete, und zwar durch eben diese äußeren Umstände, unbeeinflußbar, schicksalshaft.

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